Nichts als Gespinster

Dieses Jahr ist das Gespinstmottenschauspiel, wie in Berlin, wo das Foto entstand, besonders spektakulär. Die Raupenmotten umspinnen die Blätter, von denen sie sich bis zur Verpuppung ernähren Foto: Sonja Trabandt

Natur ist niemals Kunst. Natur ist Natur. In Berlin indes, wo alles Schaulaufen ist, wo Sein das Gleiche ist wie Sichzeigen, wird aus der Gespinstmottenraupe (Yponomeuta) ein Christo. Jetzt, im Frühjahr, spinnt sie ganze Bäume und Sträucher ein, Pfaffenhütchen, Traubenkirschen, andere. Der weiße Schmetterling mit den schwarzen Punkten, wie Polka Dots, ein nachtaktiver Falter, legt die Eier ab, die Maden schlüpfen und bauen sich ihren Kokon mit der Anmutung eines Schleiers um die Blätter, von denen sie sich in den nächsten Wochen ernähren, und schaden dem Baum nicht. Die Tiere leben in Kolonien, in Koexistenz, auch in Kooperation. So erreicht das Naturphänomen diese Größe, das wie ein Biennale-verdächtiges Kunstprojekt wirkt. Beobachtet wurde, dass einige Maden sich nicht verpuppen, sondern immer dann den wasserdichten, schlupfwespensicheren, vogelschnabelabwehrenden Kokon neu flicken, wenn ein Loch entstanden ist. Die anderen Maden hören irgendwann auf zu fressen, durchgehen eine Metamorphose, werden zu einer Faltergeneration. Anschließend verwittert das Gespinst und der Strauch schlägt neuerlich aus. Waltraud Schwab