Afghanistan

Nach der Explosion einer Bombe in der Hauptstadt Kabul werden Abschiebungen von Afghanen aus Deutschland vorerst ausgesetzt

Bombe im Wassertankwagen

Anschlag Bei einer der bisher größten Explosionen Kabul sterben über 80 Menschen, etwa 400 weitere werden verletzt. Erhebliche Schäden am Gebäude der deutschen Botschaft. Taliban dementieren Täterschaft

Kabul, Hauptstadt von Afghanistan, nach der Explosion der Bombe am Mittwochmorgen: Ein Passant hilft einer Verletzten Foto: Omar Sobhani/reuters

von Thomas Ruttig

BERLIN taz | Die Straßenkreuzung im Kabuler Stadtteil Scherpur, an der am Mittwochmorgen mitten im Berufsverkehr eine Autobombe explodierte, war übervoll. Wie an jedem Werktag drängten sich dort um diese Zeit Kabuls gelb-weiße Taxis, die mangels eines nennenswerten ÖPNV das Hauptverkehrsmittel des kleinen Mannes sind, Privatautos aus zweiter Hand, das Standardvehikel der Mittelklasse, sowie die Protzwagen der Reichen, gepanzert und manchmal von bewaffneten Wachen begleitet. Dazwischen mutige Fahrradfahrer, während auf den kaum vorhandenen Bürgersteigen Fußgänger zur Arbeit eilen. Meist kommt man dort nur im Schritttempo vorwärts.

Deshalb war die Opferzahl so hoch. Der afghanische Privatsender Tolo TV gab sie gestern Nachmittag mit über 80 Toten und etwa 400 Verletzten an. Das könnte noch nicht endgültig sein. Aber auf jeden Fall handelt es sich damit um einen der schwersten Anschläge in der afghanischen Hauptstadt. Nur im vergangenen Juli starben mehr Menschen, fast 100, als sich zwei Selbstmordattentäter inmitten einer friedlichen Demonstration in die Luft sprengten. Bei der Bombe gestern handelte es sich um einen mit Sprengstoff gefüllten Wassertankwagen.

Die Straße, die zum Stadtteil Wasir Akbar Chan mit seinen mauer- und stacheldrahtbewehrten Botschaften und Villen der Kabuler Eliten führt, ist die einzige noch befahrbare Verbindung in diesem Teil der Stadt. Viele Seiten- und Nebenstraßen sind dort gesperrt, oft dürfen nur Fußgänger passieren, manchmal nicht mal die. Die wohlhabenderen Kabuler, die dort noch bis vor 10, 15 Jahren wohnten, sind längst geflohen vor den ständigen Schikanen an den Sicherheitskontrollen, den Abgasen des Dauerstaus und der Dieselgeneratoren. Durch diese kriegsbedingte Gentrifizierung mutierten Teile Scherpurs und Wasir Akbar Chans zum „Botschaftsviertel“ (siehe Karte).

Ein riesiger Schlagbaum versperrte auch den Zugang zur Abzweigung, an der sich linker Hand die deutsche Botschaft befindet. Der war nach einem ähnlichen Vorfall 2009 errichtet worden, als ein Attentäter versucht hatte, einen parkenden Treibstofftransporter mit einer Autobombe in die Luft zu jagen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die ­deutsche Botschaft das eigentliche ­Angriffsziel war

Zum Glück traf er nur einen Abwassertank, der Schaden blieb mit 5 Toten und 28 Verletzten verhältnismäßig gering. Daraufhin wurden die Fenster des nahe der Straße gelegenen dreistöckigen Kanzleigebäudes der Botschaft mit Stahlplatten gesichert. Seitdem soll eine neue Kanzlei an einer sichereren Stelle errichtet werden. Viele Mitarbeiter sind schon in andere Gebäude gezogen, deshalb war die Zahl der Verletzten auch diesmal relativ niedrig – obwohl die gestrige Explosion so gewaltig war, dass die Kanzlei erneut erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Die meisten Opfer gab es vor der Sperre. Bis dahin kann der öffentliche Verkehr ungehindert fließen. Viele dürften aus den Reihen der afghanischen Polizei und Sicherheitsdienste stammen, die sie bewachten. Mehrere afghanische Firmen und Fernsehsender und auch der britische Sender BBC, die Büros an der Straßenkreuzung unterhalten, haben ebenfalls Tote zu beklagen. Beschädigt wurden zudem die iranische Botschaft sowie das von der italienischen NGO Emergency betriebene gleichnamige Krankenhaus ein paar Straßenzüge weiter, in dem auch die meisten Verletzten eingeliefert wurden.

Es ist unwahrscheinlich, dass die deutsche Botschaft das eigentliche Angriffsziel war. Zu viele andere lokale und internationale Einrichtungen befinden sich in der Nähe, darunter der Präsidentenpalast nur wenige hundert Meter weiter östlich.

Der Anschlag – wenn es denn einer war – erinnert an einen Vorfall im August 2015. Damals detonierte kurz nach Mitternacht in Schah Schahid am südöstlichen Kabuler Stadtrand eine Lastwagenbombe, 15 Menschen wurden getötet, 283 verletzt. Einiges deutete darauf hin, dass die Bombe auf dem Weg zu einem Ziel woanders in der Stadt war. Etwa wie am 19. April 2016, als eine andere Lkw-Bombe eine Einrichtung des afghanischen Geheimdiensts zerstörte. Damals bekannten sich die Taliban zu dem Anschlag. Sie argumentierten, es habe sich um ein legitimes, weil militärisches Ziel gehandelt.

Diesmal dagegen erklärten die Taliban, ihre Mudschaheddin hätten mit dem Vorfall nichts zu tun. Dafür spricht, dass die Taliban in städtischen Zentren häufig sogenannte komplexe Angriffe ausführen: Sie schicken einen Attentäter vor, um Sperren zu beseitigen, und greifen dann eine bestimmte Institution mit weiteren Bewaffneten an. Dies war am Mittwochmorgen nicht der Fall.

Der örtliche Ableger des sogenannten Islamischen Staats, Daesch Chorassan, hat sich dagegen bisher nicht geäußert. Die Organisation bekennt sich sonst sehr schnell zu vergleichbaren Taten, manchmal auch, wenn sie gar nicht dahinter steckt. Es wäre zudem ihr erster Anschlag mit einer Lkw-Bombe, was größere Mengen Sprengstoff erfordert als die Selbstmordattentäter am 23. Juli 2016 in Kabul am Körper tragen konnten.

Also doch ein Taliban-Anschlag, dessen Bombe zu früh losging, während die Kommandos dann nicht mehr losschlugen?