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„Klar, ist es manchmal anstrengend“

Erschwerte Entwicklung Am Anfang war mit der kleinen Anna alles so, wie es sein soll. Dann kamen den Eltern Zweifel, und die Ärzte schließlich machten eine Gewissheit daraus: Anna leidet am Rett-Syndrom – einem vererbten Gendefekt mit schweren, nach heutigem Wissen nicht heilbaren Folgen. Wie gehen Menschen mit so etwas um – und wo finden sie Beistand?

„Wir sind mit der Sache gewachsen, und sie kennt es ja nicht anders“: Familien mit Kindern, die das Rett-Syndrom haben, begleitet der Hamburger Fotograf Arne Mayntz schon seit Jahren. Von ihm stammen auch diese Bilder von Anna Hebecker und ihrem Vater Danilo

Von Frank Keil

Anna sitzt. Anna lässt sich nach hinten gleiten, Anna liegt lang ausgestreckt. Anna setzt sich wieder auf, sitzt da und knetet ihre Hände. Anna ist vier Jahre alt, in diesem Sommer wird sie fünf werden. Einmal hebt ihr Vater sie sanft hoch, stellt sie neben sich, hält sie, und Anna schaut in die Welt, im pinkfarbenen Pullover und pinkfarbener Strumpfhose. Ganz wie ein ganz normales Mädchen, wie sie ja auch eines ist. Normal, nur anders. Annas Vater setzt Anna wieder hin, wenn sie wollte, könnte sie nun ihren Sprachcomputer aktivieren, über die Augensteuerung. Aber dazu hat Anna gerade keine Lust. „Klar“, sagt Annas Vater, „ist es manchmal anstrengend.“

Anna hat das Rett-Syndrom, benannt nach dem Kinderarzt Andreas Rett (siehe Kasten). Eine Genmutation ist dafür verantwortlich, dass die Kinder, später Jugendlichen und dann Erwachsenen, ein Leben lang Hilfe und Unterstützung brauchen. Heilbar ist das Syndrom nach derzeitigem Wissensstand nicht. Das Rett-Syndrom bekommen fast nur Mädchen – genauer: Jungen, die es haben, sterben meist noch im Mutterleib.

„Anna sah, als sie ganz klein war, aus wie das Michelinmännchen – überall hatte sie Röllchen; eine Falte nach der anderen“, erzählt Danilo Hebecker, Annas Vater. Für den Kinderarzt war das zunächst kein Grund, sich Gedanken zu machen: Das werde wohl vom Stillen kommen, von der reichhaltigen Muttermilch. Aber dann rief die Krippe an: Irgendwas stimme da nicht, Anna sei in der Entwicklung nicht so weit wie die anderen Kinder. „Anna fing an zu krabbeln, hörte damit auf, machte keine Anstalten es noch mal mit dem Krabbeln zu versuchen“, erzählt der Vater.

„Da ist irgendwas“

Die Eltern wechselten den Kinderarzt – auch um eine zweite Einschätzung zu erhalten. Der schaute sich das Mädchen an, die Daten und Kurven im Untersuchungsheft, und auch er sagte schließlich: „Da ist irgendwas.“

Vielleicht doch mal ins SPZ gehen, ins Sozialpädiatrische Zentrum? „Das ist extra für entwicklungsgestörte Kinder“, erklärt Nadine Hebecker, Annas Mutter, Danilos Frau. So was gibt es im niedersächsischen Danneberg nicht, wo die Hebeckers wohnen. Es gibt eines in Hamburg und eines in Celle. Die Hebeckers fuhren nach Celle, ließen Anna untersuchen. Blutproben wurden nach München geschickt, ins Labor. „Und dann kamen die Anrufe“ erzählt Danilo.„Sie haben dieses und jenes untersucht und können es ausschließen, und nun komme der nächste Verdacht dran. Sie arbeiteten nach dem Ausschlussprinzip – sie wussten ja nicht, wonach sie suchen sollten.“

Irgendwann musste dann ein Termin gemacht werden beim Humangenetiker. „Humangenetiker“, sagt Danilo. Er nickt, kaut auf dem Wort herum. Da sei ihnen klar geworden: Da ist etwas Ernstes im Spiel … aber was? „Dann erhielten wir das Ergebnis, und das war ein schöner Schlag in die Fresse.“

Damals wussten die Eltern noch nicht, was das nun bedeutet: ein Rett-Kind haben. Welche Lebenserwartung hat Anna? Welchen Verlauf wird ihre Entwicklung nehmen? „Es gibt Kinder, die können fast gar nichts, bis zu Kindern, die können eigenständig essen, die können einige Worte sagen, bis zu Kindern, die können laufen.“ Danilo breitet die Arme weit auseinander, um zu zeigen: So breit ist die Spanne möglicher Verläufe.

Das Rett-Syndrom ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung als Folge einer Enzephalopathie, also Störung des Hirns und/oder Nervensystems. Sie hat schwere geistige, auch körperliche Behinderung zur Folge. Viele Betroffene erleben das Erwachsenenalter, sind aber zeitlebens auf Betreuung angewiesen.

Erstmals beschrieben hat das Syndrom im Jahr 1966 der Wiener Kinderarzt Andreas Rett (1924–1997). Er bemerkte zuerst typische „waschende“ Handbewegungen („washing movements“) bei zwei Mädchen in seinem Wartezimmer.

Zum autistischen Spektrum gehört das Rett-Syndrom laut dem psychiatrischen Klassifikationssystem DSM-IV: Darin wird Rett mit dem Asperger-Syndrom sowie der „nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörung“ unter einer Ziffer zusammengefasst: 299.80.

In Deutschland erkranken jährlich etwa 50 Kinder, es gibt fast ausschließlich Mädchen mit dem Syndrom. Bei männlichen Embryonen führt die zugrunde liegende Gen-Mutation fast immer zum Absterben noch im Mutterleib. Bei Mädchen ist es die zweithäufigste Behinderung – nach dem Down-Syndrom.

Die Ursache des Syndroms identifizierten im Jahr 1998 US-Wissenschaftler: eine Mutation des MECP2-Gens, über das X-Chromosom hauptsächlich vom Vater an die Tochter weitergegeben. Seitdem kann es mit einem Gentest nachgewiesen werden.

Austausch und Hilfe für Betroffene bietet bundesweit der Verein „Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom“ (www.rett.de). Seinem Landesverband Nord mit Sitz in Norderstedt gehören mehr als 50 Familien aus Hamburg, Schleswig-Holstein, dem nördlichen Niedersachsen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern an: www.rett-syndrom-elternhilfe.de

Wissenschaftliche Forschungsansätze zu Rett fördert zudem der Verein „Rett Syndrom Deutschland“: www.rett-syndrom-deutschland.de (taz)

Hilfe im Internet

„Es war der 2. Oktober 2014, da bin ich relativ sicher“, sagt Danilo über den Tag, an dem sie davon erfuhren. „Gefassterweise sind wir ins Auto gestiegen und zurück nach Hause gefahren.“ Er sei dann abends zum Fußballspielen gegangen, Alte Herren. „Ich hatte schon abgesagt“, erzählt er. Aber dann habe er seine Frau doch gefragt, „ob das okay wäre, wenn ich doch hingehe. Einfach den Kopf frei kriegen, auf andere Gedanken kommen“. Und noch etwas habe er damals zu seiner Frau gesagt: „Geh’nicht ins Internet! Lass’uns nachher in Ruhe gemeinsam gucken!“

Als er vom Fußball zurückkam, „saß Nadine am Computer und war schon bei Facebook. So haben wir den Elternhilfeverein kennengelernt und die anderen Eltern, deren Kinder das Rett-Syndrom haben.“ Und das sei eine große Hilfe.

Sie besuchten als erstes eine Familie ganz in der Nähe: Dort gab es eine schon jugendliche Tochter mit Rett-Syndrom, und deren Eltern erzählten den Hebeckers, was sie wussten, wie ihr Alltag aussah. Und manches mussten sie wohl gar nicht erzählen: „Das Haus hat so einen breiten Flur und da standen die verschiedenen Rollstühle hintereinander“, erinnert sich Danilo. „Das war für Nadine sehr hart.“

Auffälliges Vater-Tochter-Verhältnis

Nun waren die Hebeckers eingebunden in die Arbeit des Rett-Elternhilfevereins: Das bedeutete viele Treffen, viele Termine – aber auch viel Hilfe und Trost. Und jede Menge Anregungen, was man tun könnte. Auffällig dabei: Es sind viele Väter, die sich da um ihre Töchter kümmern. „Die Mädels sind sehr papabezogen, ich weiß nicht, woran es liegt“, sagt Danilo.

„Wenn sie maulig wird“, erzählt Nadine, „legt er sie sich auf die Brust, meist schläft sie gleich ein“. – „Das ist meine ruhige Art“, sagt er und grinst seine Frau an, und die grinst zurück. „Wirklich“, sagt er dann, „Anna ist sehr auf mich bezogen“. Und Anna? Sitzt da, brummelt, gibt manchmal helle, nach Ungeduld klingende Töne von sich, möchte etwas trinken, etwas essen, wiegt sich leicht hin und her und isst und trinkt dann, was ihr ihre Eltern zureichen.

Hoffen auf die Delfine

„Was haben wir vor? Erzähl mal“, sagt Annas Vater zu Anna und spricht dann doch selbst: „Wir wollen mit dem Rollstuhl zu den Delfinen, und dann wollen wir den Rollstuhl stehen lassen und zu Fuß nach Hause laufen.“ Zu den Delfinen fahren sie tatsächlich: zur Therapie in die Türkei. Eine ziemlich teure Sache. Eigentlich hatten sie sich darauf eingestellt, die nächsten zwei, drei Jahre dafür zu sparen. Aber dann erschien in der örtlichen Tageszeitung ein größerer, empathischer Artikel über Anna und ihre Familie. Und eine Frau aus dem Ort kam vorbei und schenkte – einen kleinen Goldbarren. Auch eine Dannenberger Firma sammelte Geld, so wie die umliegenden Feuerwehren: Annas Eltern sind beide bei der Freiwilligen Feuerwehr, und Danilo ist dort auch nicht irgendwer: Er war stellvertretender Kinderfeuerwehrwart auf Samtgemeindeebene, ist nun stellvertretender Kreisausbildungsleiter, absolviert eine Ausbildung zum Zugführer. So kennen ihn auch die Leute in den Nachbarorten, und jeweils zu Weihnachten wurde gesammelt.

Es kam Geld zusammen, genug Geld, um schon jetzt in den Sommerferien in die Türkei zu fliegen. Zwei Wochen wird die Reise dauern und die ganze Familie kommt mit, auch Mika, der Fünfzehnjährige aus Danilos erster Ehe, der bei ihnen lebt. Ein drittes Kind ist noch hinzugekommen: Linus, ein Säugling, strampelt auf Nadines Armen mit den Beinen herum.

Vorsorge für die Zukunft

„Es kann nur besser werden“, sagt Danilo, der als Angestellter bei der Polizei arbeitet, zuständig für deren Verpflegung. Vielleicht lerne seine Tochter gezielt nach Essen zu greifen, abzubeißen, wer weiß. Und wenn nicht, dann müssten sie eben das Beste daraus machen, sagt er. Und sie hätten es wenigstens probiert.

Sie haben ihr altes Haus verkauft und wohnen in einem anderen, mit mehr Fläche im Erdgeschoss. Irgendwann wird Anna zu schwer sein, um sie immer nach oben und wieder nach unten zu tragen. Gerade kümmern sie sich um eine neue Unfallversicherung für das Kind: Die alte wurden ihnen sofort gekündigt, als sie das Rett-Syndrom angaben. Behinderte Menschen können nach Ansicht der Versicherer schlicht nicht unfallversichert sein. Danilo schrieb den Bundestagsabgeordneten seines Bezirkes an. Der hatte davon noch nie etwas gehört und wandte sich an den Verband Deutscher Versicherer: Das könne doch nicht angehen. „Ich male mir da nicht viel aus“, sagt Annas Vater. Andererseits: Es betreffe ja nicht nur sein Kind, sondern alle Menschen mit einem Pflegegrad. So ein Wort, Pflegegrad, geht ihm inzwischen wie selbstverständlich über die Lippen.

Delfintherapie meint im Wesentlich das Schwimmen und den Umgang mit Delfinen, zumeist in Unfreiheit gehaltene Tiere. Sie wird heute zur Behandlung von psychischen Störungen wie auch für zahlreiche Formen von intellektueller und psychischer Behinderung angeboten – ist in ihrer Wirksamkeit aber umstritten.

Vater“ der Delfintherapieist der US-amerikanische Neurologe John C. Lilly (1915–2001), der in den 1960er-Jahren die Interaktion zwischen Mensch und Wassersäuger studierte. In der Folge war insbesondere David Nathanson einflussreich: Der Psychologe betrieb jahrzehntelang eigene Therapie-Zentren.

Wegen verschärfter Tierschutzbestimmungensetzte Nathanson in den 2000er-Jahren auf einen eigens entwickelten „Roboter-Delfin“ aus Silikon: Dieser sei mindestens so wirksam wie echte Delfine, so Nathanson – die Kunden aber liefen ihm in Scharen davon.

Forschung zur Wirksamkeitder Delfintherapie – respektive „delfingestützter“ Methoden – betreiben zumeist die Anbieter selbst. Auf eine „positive Verhaltensänderung“ verwies aber auch Erwin Breitenbach vom Institut für Sonderpädagogik der Universität Würzburg im Jahr 2006. „Signifikante Verbesserungen“ hat auch Nicole Lämmermann in ihrer Münchener Dissertation zur Wirksamkeit delfingestützter Therapie ausgemacht; sie merkt aber an, der Effekt sei „eher ein globaler als ein spezifischer“.

Es gibt andererseits erhebliche Zweifeldaran, dass die Delfintherapie wirklich erreicht, was ihre Befürworter sagen. So wird vermutet, dass nicht die Delfine zu besserem Befinden oder mehr Interaktion der PatientInnen führen, sondern die Ausnahmesituation: die ungewohnte Umgebung und das Mehr an Aufmerksamkeit und Ansprache. Auch wird bezweifelt, dass solche Effekte bleibend sind.

Auch der Tierschutz wird immer wieder problematisiert: Delfine können aus Sicht zahlreicher Wissenschaftler in Gefangenschaft nicht artgerecht leben. (taz)

In die Schule mit demSprachcomputer

Die Eltern haben Anna bei der normalen Grundschule im Ort angemeldet. Einen Sprachcomputer, der ihr helfen wird, Lesen und Schreiben zu lernen und sich mit den anderen Kindern zu unterhalten, haben sie von der Krankenkasse jetzt schon erstritten, damit sie damit schon geübt ist, wenn es in die Schule geht.

Anna geht in den Kindergarten, ihr steht eine persönliche Assistenz zur Seite: geht mit ihr auf Toilette, macht Lauf- und Turnübungen, schiebt sie von A nach B, wenn gerade keines der anderen Kinder will – was aber äußerst selten vorkomme. Auch sei die Tischordnung jeden Tag eine andere, damit es keinen Streit unter den Kindern gibt, die neben Anna sitzen möchten.

Und Anna sitzt da und sitzt. Vielleicht wird sie gleich müde, lässt sich nach hinten gleiten, schläft. Schläft so lange wie sie eben schläft. Und wenn sie ausgeschlafen hat, setzt sie sich wieder auf. Annas Vater muss jetzt mal eine rauchen, er steht auf, greift nach seinen Zigaretten. „Wir sind mit der Sache gewachsen“, sagt er. „Und sie kennt es ja nicht anders.“