Dresdner Endloswahlkampf

Nur einige Dresdner freut die Aussicht auf eine große Nachwahlkampagne. Viele haben keine Lust mehr auf Wahlkampf

Wer regiert? „Ist mir doch egal“, sagte eine Dresdnerin. Ein anderer: „Die Politiker sollen hinnemachen“

AUS DRESDEN HEIKE HAARHOFF

Egon Reinhold ist 77 Jahre alt und damit in einem Alter, wie er sagt, „in dem man auf alles gefasst ist“. Vor allem auf die Scharen von Politikern, die nun womöglich seine Plattenbausiedlung in Dresden-Prohlis belagern werden bis zum 2. Oktober. Bis zur Nachwahl im Dresdner Wahlkreis 160, die nötig geworden ist, weil die Direktkandidatin der NPD kurz vor der Bundestagswahl starb, werden sich die Wahlkämpfer gegenseitig die Klinke in die Hand drücken, glaubt der Rentner, insbesondere in seinem Stadtviertel, das als sozialer Brennpunkt gilt und in dem viele Nichtwähler und Unentschlossene vermutet werden. „Die Wahl ist so knapp ausgegangen, da werden sie sich plötzlich alle an uns erinnern“, sagt Egon Reinhold und grinst spöttisch.

225 Sitze für die CDU, 222 Sitze für die SPD, so sieht die Sitzverteilung im nächsten Bundestag bislang aus, und wenn man den Demoskopen glaubt, dann ist eine Verschiebung dieses Ergebnisses durch die Stimmen der 219.397 Wahlberechtigten aus dem Dresdner Wahlkreis 160 praktisch ausgeschlossen. Aber weiß man es wirklich? Haben die Demoskopen nicht auch eine satte Mehrheit für Schwarz-Gelb vorausgesagt? Nein, sagt Egon Reinhold, man darf sich nur auf sich selbst verlassen, und deswegen wird er die anrückenden Wahlkämpfer sich ruhig den Mund fusselig reden lassen. Sein Kreuz aber macht Egon Reinhold bei der SPD: „Immer noch besser den Schröder als die Merkel, mit der wird doch alles nur noch unsozialer, Krankenversicherung, Mehrwertsteuer“, er winkt ab.

Die Dresdner Direktkandidaten ahnen, was da auf sie zukommt. „Es geht um jede Stimme“, seufzt Andreas Lämmel, 46, der Direktkandidat der CDU, so als handele es sich um großes Unheil. Der Wahlkreis 160 ging bei vergangenen Wahlen traditionell zwar an die CDU. Doch bei der letzten Bundestagswahl überholte die SPD die CDU bei den Zweitstimmen, sie wird in den kommenden zwei Wochen alles daransetzen, auch das Direktmandat für sich zu entscheiden. Diesmal hat zudem die Linkspartei/PDS mit der stellvertretenden Bundesparteichefin Katja Kipping, 27, eine ernst zu nehmende Gegnerin ins Rennen geschickt. Gysi, Lafontaine – Kipping will noch einmal die ganz große Show, der zentrale Dresdner Schlossplatz ist bereits für den 28. September für die Großkundgebung der Linkspartei reserviert. Und deswegen wird auch Andreas Lämmel sich jetzt nicht bloß auf die Mobilisierung seiner traditionellen CDU-Wählerklientel beispielsweise im gutbürgerlichen Stadtteil Blasewitz konzentrieren, wie er es bei eindeutigen Mehrheitsverhältnissen getan hätte, sondern den Straßenwahlkampf flächendeckend im Wahlkreis neu anheizen, neue Plakate kleben, Bundespolitprominenz einladen: „Merkel kommt am Freitag“, kündigt Lämmel stolz an.

Ob es sich auszahlt, ist eine andere Frage. Viele Menschen an der Elbe wünschen sich ganz schlicht, der Wahlkampf möge endlich aufhören und jemand mit dem Regieren anfangen. Wer genau? „Ist mir doch egal“, sagt der 22-jährige arbeitslose Lackierer Michael John, „am besten jemand, der mir einen Job gibt, aber wer könnte das sein?“ „Irgendwer“, sagt auch Ingrid Ullmann, 52 Jahre, die sich selbst jahrelang von Minijob zu ABM gehangelt hat und in der Beratungsstelle „Guter Rat“ arbeitslosen Frauen hilft, Bewerbungen zu schreiben. „Die einen wie die anderen können doch nicht viel verändern“, glaubt sie, „es ist doch kein Geld da“, und deswegen ist es ihr auch „schnurz“, ob es im Bund nun eine große Koalition oder eine Ampel geben wird. Sie wird die SPD wählen am 2. Oktober, weil „die Merkel“ ihr unsympathisch und kaltherzig erscheint, aber nicht, weil sie sich im Gegenzug von der SPD irgendeine Verbesserung für ihre arbeitslosen Frauen erhoffen würde.

Von Aufbruchstimmung, vom fieberhaften Nachdenken über mögliche Koalitionen, die es sonst so oft nach Wahlen gibt, keine Spur. Jedenfalls nicht bei der Bevölkerung in der sächsischen Landeshauptstadt. „Was erwarten Sie?“, fragt freundlich Professor Jochen Rozek. Rozek ist 45 und Staatsrechtler an der TU Dresden, er muss wissen, was für den Staat gut ist. Aber Rozek betrachtet die Sache nüchtern: „Staatsrechtlich gesehen muss eine Regierung im Parlament über die Mehrheit verfügen.“ Und praktisch? „Praktisch wird sich keine Koalition angesichts der immensen Probleme Stillstand leisten können.“ Und insofern sieht auch Rozek, der auch erst am 2. Oktober wählen darf, das Wirkungspotenzial seiner Nachwahlstimme begrenzt und er jeder möglichen Koalition gelassen entgegen.

Vor dem Dresdner Hauptbahnhof kehrt Volkmar Dautz die ersten Herbstblätter und Müll zusammen. „Die Politiker sollen sich einigen und hinnemachen“, brummelt er, „liegt genug Dreck rum.“