Der Prinz ist Jäger

Robert Walsers „Schneewittchen“ in den Sophiensælen torpediert die Gewissheit des Happy Ends und stürzt Figuren und Publikum in unmärchenhafte Verwirrung

Im Märchen sind die Verhältnisse klar: Auf der einen Seite Schneewittchen, unschuldig und gut. Auf der anderen Seite die böse Königin, die der Stieftochter ihre Schönheit so sehr missgönnt, dass sie ihr nach dem Leben trachtet. Der Jäger, den die Königin zum Mord anstiften will, hat Mitleid und verschont das Mädchen; der Prinz tritt schließlich als ihr Retter auf die Szene. Das Märchen zeichnet ein klares Schwarz-Weiß: hier gut, da böse; hier unschuldig, da schuldig.

Bei Robert Walser ist von dieser Klarheit nichts mehr übrig. Die Personen in seinem Versdramolett „Schneewittchen“, das am Donnerstag in einer Inszenierung von Thorsten Lensing und Jan Hein in den Sophiensælen Premiere hatte, sind zwar dieselben wie im Märchen. Anders als im rasch voranschreitenden Märchen gibt es bei Walser aber kein Happy End. Sein Stück verwickelt die vier Protagonisten vielmehr in endlose, nur scheinbar spielerische Debatten um Lüge und Wahrheit, Schuld und Unschuld, Liebe und Hass.

Die Arena, in der dieses Spiel stattfindet, ist eng umgrenzt: Zu Beginn des Abends müssen sich die Schauspieler in dem mit grobem Kies bedeckten Boden geräuschvoll ein Quadrat freischaufeln, in dessen Grenzen sie sich bewegen. Hier treffen die vier Protagonisten aufeinander – zu einem Zeitpunkt, an dem die Mordversuche der Königin an Schneewittchen bereits stattgefunden haben und der Zuschauer nur noch mit dem erwartbaren Ende rechnet. Das nicht kommt.

Eigentlich weiß jeder der vier um die Rolle, die er bisher gespielt hat – insofern scheint Walsers Stück zunächst nicht viel mehr als ein Aufschub zu sein, ein kurzes Intermezzo, in dem zunächst das Grimm’sche Märchen der Bezugspunkt bleibt. So zückt der Jäger gleich zu Anfang seine Brille, um aus dem Märchenbuch die bisherigen Geschehnisse vorzulesen: „Wie laut und wahr das Märchen doch verkündet hat.“ Eigentlich müsste man also nichts mehr verhandeln.

Doch schnell wird diese märchenhafte Wahrheit in einer Debatte zwischen Schneewittchen und der Königin grundsätzlich in Zweifel gezogen: Die Königin versucht ihre Tochter zu überzeugen, dass der Jäger ihr nichts Böses gewollt, sondern nur „zum Spaß“ den Dolch gezückt habe, und fordert sie auf: „Glaub doch solch aberwitz‘gen Märchen nicht!“

Spätestens mit diesem Satz beginnt der feste Boden der verlässlichen Märchenhandlung zu schwanken. Was ist wirklich geschehen, wer hat Schuld, woher kommt der Argwohn, woher das Vertrauen? Wer von den Personen weiß mehr, als er sagt, und wer spielt welches Spiel mit wem? Immer wieder verschieben sich die Konstellationen, in denen die vier aufeinander treffen, immer wieder werden wechselnde Koalitionen eingegangen und alsbald wieder aufgekündigt, immer wieder schlägt die Stimmung um. So lange, bis vom Märchenstoff kaum noch etwas übrig ist.

Unter Walsers Blick – und besonders in der Inszenierung von Lensing/Hein – wird das Gewusste zweifelhaft und das Vertraute fremd, für die Zuschauer des Stücks nicht weniger als für seine Figuren. „Die Mutter ist die Mutter nicht, die Welt ist nicht die süße Welt, der Prinz ist Jäger, Liebe Hass …“, beklagt Schneewittchen ihre Verwirrung. Dieser Verunsicherung kann in Walsers „Schneewittchen“ niemand ausweichen, und gerade das macht das Stück, trotz seiner komischen Momente, so verstörend und beunruhigend. Da kann der Prinz noch so zwinkernd flachsen „Auf Herzleid scherzt es sich so gut!“ – bei Schneewittchen und den Zuschauern bleibt die Beklemmung. ANNE KRAUME

weitere Vorstellungen: 22.–25. 9., jew. 20 Uhr, Sophiensæle, Sophienstr. 18