WALTRAUD SCHWAB LEKTIONEN
: Oh, Blechdosenhelmling?

Über 4.000 Pilzarten wachsen im Wald rund um Berlin. Man muss sie nicht finden. Wenn doch, sind es Wunder

Die Pilzsachverständigen treffen sich in Potsdam am Jagdhaus Stern. Eine Pilzwanderung wollen sie machen, obwohl es dieses Jahr mit den Pilzen nicht so gut läuft. Erst zu trocken, dann zu kalt nachts, dann wieder zu warm. Aber irgendwas wachse immer, man wisse nur nicht, was, wo und wieso, sagt Ute Schmidt, eine Pilzkundige. „Pilze sind eben geheimnisvoll“, sagt sie, „deshalb muss man sie suchen.“

Ein gutes Dutzend Pilzbegeisterte sind zum Jagdhaus gekommen, ein Backsteinbau mit imposantem First. Ein Musiker aus Teltow ist da, eine Ingenieurin – oder besser: eine „Ich bin Ingenieur“ – und dann noch dieser riesige, mächtige, schwarz gekleidete Mann mit dem ganz kleinen Körbchen. Er wolle nur eine bestimmte Art sammeln, sagt er. Da gebe es ein Superrezept mit Leber. Ein Rasta-Student und seine Freundin sind auch dabei. Neulinge wie ich. Pilze sind mir unheimlich. Außer Champignons esse ich keine.

Pilze findet man im Wald

Die Pilzkundigen haben kaum einen Fuß in den Wald gesetzt, da steuern sie – als würden sie gezogen – ein paar Meter ins Holz, dorthin, wo außer fauligem Laub nichts zu sehen ist – für mich. Sie aber finden sogleich etwas, nennen es „Birnenstäubling“, der würde wie Autoreifen riechen, und dann „rötlichen Holzbitterling“ und dann „Flämling“. Der habe noch Cortina. Was ist Cortina? Zum Antworten kommen sie nicht. Denn schon trägt Ute Schmidt einen Fliegenpilz in der Hand. „Wo haben Sie den denn jetzt gefunden?“ „Im Wald“, antwortet sie. Und dann findet jemand auch gleich – „aha“ – den Schlimmsten, den grünen Knollenblätterpilz. „Würd’ ich nicht empfehlen, einer reicht“, sagt einer. „Wo haben Sie den jetzt gefunden?“ „Im Wald“, antwortet der Finder und legt ihn in Ute Schmidts Korb. Sie will tags darauf über Pilzgefahren aufklären. Die Mykophilen tun alles, damit sich niemand vergiftet. Bei 4.500 Varietäten sind fatale Verwechslungen möglich. Ungefähr vier Menschen sterben durch Blitzschlag in Deutschland pro Jahr, etwa 30 Mütter durch Schwangerschaft oder bei der Geburt, im Straßenverkehr sind es mehrere Tausend, an Pilzvergiftungen dagegen kamen in den letzten Jahren zwischen ein und drei Menschen zu Tode. Nur 2006 waren es mehr. Auf den Webseiten der Pilzfans kann man das lesen.

Die Pilzkundigen schwärmen aus. Zurück bleiben Doktor Fischer, ein langsamer 81-jähriger Biologe, und die Neulinge. Wir müssen unsere Augen erst an den Wald gewöhnen, das macht uns zu Kindern. Plötzlich sehe ich was. Einen Kronkorken, wie sich herausstellt. Und daneben, ganz klein, meinen ersten echten Pilz. Ich pflücke ihn und zeige ihn mit Erstklässlerinnenstolz. „Waldfreundrübling – Gymnopus dryophilus“, sagt Doktor Fischer. Schmeckt der? „Nein.“ Der falsche Pfifferling schmeckt ebenso wenig. Der Krempling wiederum soll schmecken, sei aber giftig. Für Sekunden bewundern kann man sie trotzdem – auch den Eichenmilchling, der nach Wanzen riecht, oder den Lacktrichterling, den Blechdosenhelmling, den gelben Vermessungspunktsporling. Immerhin, mein Auge erkennt jetzt mehr, wenngleich vergeblich. „Pilze lernt man nicht in einem Tag“, sagt Fischer.

Als wir die anderen wieder treffen, hat außer dem Musiker kaum einer was Essbares im Korb. Dort aber leuchtet es grün, violett und weiß – beste liturgische Farben. „Iiiih, wie eklig. Und dieses lila Zeug soll essbar sein?“, frage ich. „Ja“, sagt der große, schwarzgekleidete Mann, der mit Sehnsuchtsblick in des Musikers Korb schaut. Der violette Rötelritterling, der in der Mitte zwischen grün schimmernden Maronen und weißen Bovisten liegt, das war sein Pilz. „Wo haste den denn gefunden?“ „Im Wald“, antwortet der Musiker.

Die Autorin ist sonntaz-Redakteurin auf lebenslanger Lernmission Foto: Isabel Lott