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gesundheit 49–51

„Hört jemand auf zu trinken, ist das ein Signal“

Was tun, wenn Menschen freiwillig auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten – weil sie sterben wollen? Eine Herausforderung für pflegende Angehörige, aber auch für medizinische Profis und Experten

Irgendwann reicht auch das nicht mehr: spezielles Essen für alte Menschen Foto: Carmen Jaspersen/dpa

Von Joachim Göres

„Ich habe den Entschluss zu sterben schon vor langer Zeit gefasst. Ihr hättet mich nicht davon abbringen können“: Als Christiane zur Nieden diese Worte aus dem Mund ihrer Mutter hört, hat diese sich entschieden: Die 88-Jährige isst und trinkt nicht mehr. Für die Tochter eine sehr schwierige Situation: Einerseits verspricht sie der Mutter, die immer sehr selbstständig gelebt hat, sich mehr um sie zu kümmern. Aber mit ihren Argumenten für das Weitermachen, für das Leben, scheint sie nicht durchzudringen. Schweren Herzens willigt zur Nieden ein, ihre Mutter die letzten Tage hindurch zu begleiten.

Als Heilpraktikerin für Psychotherapie hat Christiane zur Nieden selbst Erfahrung mit der Sterbe- und Trauerbegleitung. Und so auch mit Menschen, die freiwillig auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten. Das Durstgefühl der Mutter bekämpft sie, in dem sie deren Mundraum feucht hält. Rund um die Uhr ist entweder eine der beiden Töchter oder die Enkeltochter bei der Mutter, die zuletzt nur noch auf dem Rücken liegen kann. Gegen die Schmerzen gibt der Schwiegersohn, ein Allgemeinmediziner, Morphium, so dass die alte Frau fast schmerzfrei ist. Die Müdigkeit nimmt zu, doch es gibt auch viele wache Momente, in der Tochter und Mutter miteinander über Dinge reden können, die bislang stets tabu waren. Sie lachen und weinen miteinander und sie nehmen Abschied.

Nach 13 Tagen stirbt die Mutter schließlich. Diese Zeit beschreibt zur Nieden in ihrem 2016 erschienenen Buch „Sterbefasten“. Darin gibt sie auch Tipps für die Pflege, informiert über die rechtliche Situation und berichtet von ihren widerstreitenden Gefühlen, als sich der Tod eines geliebten Menschen abzeichnet.

Christiane zur Nieden war eine von 80 TeilnehmerInnen bei der Tagung „Lebenssatt?“ des Zentrums für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum unlängst in Hannover. Dort ging es aus der Sicht von Fachleuten unter anderem um ethische Aspekte beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (kurz FVNF). „Wenn jemand aufhört zu trinken, dann ist das ein Signal“, berichtete etwa Mathias Pfisterer, Chefarzt am Darmstädter Elisabethenstift, aus langjähriger Erfahrung. „Kein gesunder Mensch entscheidet sich zu so einem drastischen Schritt, der ein großes Durchhaltevermögen erfordert.“

Laut Bernd Alt-Epping, Oberarzt an der Uniklinik Göttingen und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, müssen Krisensituationen miteinkalkuliert werden. Er schildert den Fall eines 58-Jährigen, der in Folge eines schweren Schlaganfalls unter Krampfanfällen litt und nur noch schlecht sprechen konnte. Er ließ sich nach Hause verlegen, wo er auf Nahrung und Flüssigkeit verzichtete. Kurz vor seinem Tod traten bei dem Mann Angstzustände auf, eine weitere, starke Belastung für seine Frau, die ihn betreute. „Sie rief mitten in der Nacht bei uns an und suchte Rat“, so Alt-Epping. „Es ist wichtig, dass ein Arzt in solchen Fällen immer ansprechbar ist.“

Immer wieder betonten Experten bei der Tagung, dass es sich bei der ärztlichen Hilfe um eine ethisch gebotene Form der Sterbebegleitung handele, bei der Leiden etwa durch die Vergabe von Schmerzmittel gelindert werden könnten. „Der FVNF ist keine Form des Suizids im Sinne des Paragrafen 217“, so Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrecht aus Hamburg. Die Begleitung sei „rechtlich unproblematisch, wenn der Arzt Symp­tome behandelt, die dabei auftreten. Für eine Zwangsernährung gibt es keine rechtliche Grundlage“.

Nach einer Untersuchung in den Niederlanden führte Flüssigkeitsverzicht dazu, dass von 39 Patienten mit einer als tödlich angesehenen Erkrankung 28 innerhalb von zwei Wochen verstarben; von 31 Patienten mit einer als schwer klassifizierten Erkrankung waren es 20; von anfangs 27 Menschen ohne tödliche oder schwere Erkrankung lebten nach zwei Wochen 19 nicht mehr.

Zum subjektiven Erleben sagt der Ethik-Professor Dieter Birnbacher (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf), Sterbewillige litten „nach aller Erfahrung nicht unter Hungergefühlen“ und – sorgfältige Mundpflege vorausgesetzt, die Austrocknen verhindert – auch nur wenig unter Durst. Der Wissenschaftler vermutet, dass der Körper Opiode auusschüttet – „mit der Folge euphorischer Gefühlszustände“.

Alfred Simon, Leiter der Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin, berichtete über die Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von Allgemein- und Palliativmedizinern: Sie sollten in vier fiktiven Fällen entscheiden, ob sie persönlich einen FVNF unterstützen würden. Die größte Zustimmung gab es bei einem 55-Jährigen mit einem tödlichen Tumor, am größten waren die Bedenken im Fall eines 85-Jährigen ohne schwerwiegende Erkrankung, der aber als „lebenssatt“ geschildert wurde – doch selbst in diesem Szenario waren die Befürworter der Begleitung in der Mehrheit. Es müsse aber garantiert sein, betonte Simon, dass sich niemand durch seine Umwelt zum Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit gedrängt fühlt.

Gerald Neitzke, kommissarischer Leiter des Instituts für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, konnte von einer anderen Form des sozialen Drucks berichten: „Angehörige bekommen immer wieder zu hören: ‚Sie wollen Ihren Vater doch nicht verhungern und verdursten lassen.‘ Das ist das Problem, dass viele Ärzte und Heimleitungen bis heute so agieren.“

Christiane zur Nieden: „Sterbefasten. Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit - Eine Fallbeschreibung.“ Mabuse-Verlag 2016. 144 S., 19,95 Euro