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Angst vor Ärger

Laut „Streitatlas“ des Versicherers Advocard wird in Berlin am meisten gezankt

Sind die Berliner besonders streitsüchtig? Darauf deutet der Anfang Dezember vorgelegte „Streitatlas“ hin. Demnach gibt es kein Bundesland, dessen Einwohner häufiger in Konflikt miteinander geraten – obgleich die Zahlen fast überall steigen.

Laut dem aktuellen, vom Rechtsschutzversicherer Advocard veröffentlichten Streit­atlas, für den 1,7 Millionen Fälle ausgewertet wurden, gab es 2016 im bundesdeutschen Durchschnitt hochgerechnet 25,1 Streitfälle pro 100 Einwohner (2014: 22,3). In Berlin dagegen waren es im Vorjahr 31,2 pro 100 Einwohner (2014: 29,3), womit die deutsche Hauptstadt wieder deutlich vorn liegt.

Das ist insofern nicht verwunderlich, als in Berlin mehr Menschen als in anderen Städten wohnen. Und wo viele Menschen, die sich oft persönlich nicht kennen, auf engem Raum zusammenleben, gibt es eben auch mehr Zank. Interessant ist indes, dass keinesfalls nur in ärmeren Vierteln viel gestritten wird. So belegt der sozial heterogene Ortsteil Tiergarten im Berliner Vergleich mit 38,4 Streitfällen pro 100 Einwohner den Spitzenplatz, direkt danach folgt mit Charlottenburg (38) ein überwiegend bürgerlicher Bezirk.

Wenig überraschend: Männer sind generell weitaus „stärker auf Krawall gebürstet“, über zwei Drittel aller Streitigkeiten werden von Männern ausgetragen. Besonders angestiegen sind in Berlin nun vor allem Konflikte im Bereich Wohnen, wo die Stadt mit 16,8 Prozent aller Fälle deutlich über dem Durchschnitt (11,2) liegt, was angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt nachvollziehbar ist. Das wiederum könnte ein Indiz dafür sein, dass Berliner nicht per se notorische Streithammel sind, sondern dass sich unter den vermeintlichen Querulanten etwa auch Mieter befinden, die sich nur gegen leidliche Vermieter rechtlich zur Wehr setzen. Dabei meint der Begriff „Streit“ im Advocard-Atlas nicht immer gleich eine Auseinandersetzung vor Gericht. Der Rechtsschutzversicherer versteht darunter vielmehr jeden Anruf mit einem rechtlichen Problem. Vor Gericht landen die wenigsten davon. Ohnehin sind die Zahlen bei Klagen seit Jahren überwiegend rückläufig – im Zivilbereich sind sie etwa in gut zehn Jahren fast um ein Drittel gesunken.

Da kann man sich schon fragen, ob der aufgeregte Tonfall des „Streitatlas“ („Hier wohnt die Wut: Berlin und Leipzig“) vielleicht gewollt ist. Der Rückgang an Klagen hat zugleich zu einem Anstieg außergerichtlicher Schlichtungsansätze wie Mediationen geführt. Diese haben auch den Vorteil, dass sie für die Beteiligten in der Regel billiger sind, und sie werden daher inzwischen von den Rechtsschutzversicherungen beworben. Die Angst vor rechtlichem Ärger beschert ihnen jedenfalls so viel Kunden wie nie zuvor. OS