Münchner Trend geht zum Zweittunnel

Der Bau hat längst begonnen. Trotzdem versuchen Hauseigentümer weiter, ein S-Bahn-Milliardenprojekt in der bayerischen Landeshauptstadt gerichtlich zu verhindern

Oans, zwoa, Stamm­strecke? Das 4 Milliarden Euro teure Projekt hat in München nicht nur Fans Foto: Stephan Rumpf/picture alliance

Aus München Dominik Baur

Es geht um viel Lärm und Dreck an diesem Mittwoch im Sit­zungs­saal 5 des Verwaltungsgerichts München. Lärm und Dreck, mit dem Anwohner über Jahre zu rechnen haben, während Bayerns derzeit größtes Verkehrsprojekt, die zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn, gebaut wird. Spatenstich war 2017, doch in diesem Jahr geht es richtig los. Dann fahren die Laster auf, kommen Maschinen mit so schönen Namen wie Schlitzwandfräse, Turmdrehkran und Bentonitanlage zum Einsatz.

Schallgutachter referierten vor dem 22. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über Bodenabsorptionswerte, Schallausbreitungswege und Messverfahren, über ISO 9613-2 und VDI 2719. Nicht weniger als 78 Beweisanträge brachten die Kläger in das Verfahren ein. Die Kläger, das sind die zwei Eigentümer eines Hauses am Orleansplatz, wo die neue S-Bahn-Station des Ostbahnhofs gebaut werden soll, und eine Woh­nungs­eigen­tümer­ge­mein­schaft, deren Häuser von den Arbeiten in den Maximiliansanlagen am rechten Isar-Hochufer betroffen sind. Es ist ein Kampf der Dreikäsehochs gegen Goliath: Beklagte ist die Bundesrepublik Deutschland, Eigentümerin der S-Bahn-Betreiberin Deutsche Bahn.

„Nein, es geht nicht um Lärm und Dreck“, sagt Sabine Zimmermann, eine der Klägerinnen. Für sie ist die Stammstrecke ein Unding. Sie stellt das ganze Projekt infrage. In der Tat ist die Stammstrecke alles andere als unumstritten. 15 Jahre dauert die Planungsphase nun, diskutiert wird über den unterirdischen Bypass schon seit den frühen Neunzigern. Denn mit der jetzigen elf Kilometer langen Stammstrecke zwischen Pasing im Westen und dem Ostbahnhof hat man 1972 ein Nadelöhr geschaffen, das dem Verkehrsaufkommen bereits nach kurzer Zeit nicht mehr gewachsen war. Fast alle S-Bahnen Münchens verkehren auf dieser Strecke, knapp tausend am Tag.

Zwischen Ost- und Hauptbahnhof soll die neue Stammstrecke nun für Entlastung sorgen. Sieben Kilometer lang, 40 Meter tief, derzeit 4 Milliarden Euro teuer. Hier sollen Expresslinien verkehren, außer dem Marienhof wird es keinen Zwischenhalt geben. Insgesamt, so rechnen die Planer vor, könnten fast doppelt so viele Züge wie bisher fahren.

Zu den Pluspunkten zählen die Befürworter auch Verbesserungen für die Umlandgemeinden. So soll der heute übliche 20-Minuten-Takt dort teilweise durch einen 15- oder 10-Minuten-Takt ersetzt werden. Und auch die Flughafenanbindung, in München beliebtes Thema hämischer Kommentare, soll besser werden. Nur noch 28 Minuten dauert es dann vom Marienhof zum Flughafen. Bisher dauert die Fahrt ab Hauptbahnhof rund 40 Minuten.

Die Kritiker sind zahlreich. Sie stoßen sich an den immensen Kosten und daran, dass nur das Nadelöhr vergrößert werde, weiterhin aber alle Fahrgäste durch die City geschickt werden. Die Hauptprobleme sehen sie jedoch in den Außenbezirken. Eine Ringbahn und der Ausbau der S-Bahn-Außenäste seien wirksamer, wenn man der Pendlerflut Herr werden wolle.

300 Millionen Kilometer weniger mit dem Auto, argumentiert die Bahn

Privat- und Geschäftsleute zogen vor Gericht. Mehr als zwei Dutzend Prozesse sind mittlerweile abgeschlossen, teils wurde das Eisenbahn-Bundesamt zum Schutz der Anwohner verpflichtet. Nur für den Stadtteil Haidhausen sind noch zwei Klagen anhängig, die nun in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof verhandelt werden.

Auf einem der Tische im Saal liegt die Abendzeitung. Schlagzeile: „Raus aus der Stau-Falle!“ Es ist das Thema der Lokalnachrichten an diesem Tag. Eine amerikanische Studie hat Daten über die Staus in der ganzen Welt vorgelegt. Das Ergebnis: Die Münchner sind die Stau-Sieger unter den deutschen Städten. Letztes Jahr standen sie im Schnitt rund 51 Stunden im Stau. Für viele der Pendler sind öffentliche Verkehrsmittel derzeit keine Alternative: S- und U-Bahnen sind zu den Stoßzeiten brechend voll, der Verkehrskollaps ist allgegenwärtig. Zudem legen Störungen auf der Stammstrecke immer wieder den gesamten S-Bahn-Verkehr lahm.

Mit dem Tunnelprojekt würden jährlich 300 Millionen Kilometer weniger mit dem Auto gefahren, argumentieren die Planer der Bahn. Bei dieser Berechnung gehen sie von 25.000 Pendlern aus, die mit der neuen Stammstrecke ab 2026 auf die Bahn umsteigen. Dieser Zahl steht eine andere gegenüber: 300.000. So viele neue Einwohner soll München in zehn Jahren beherbergen – wenn das jetzige Wachstum anhält.