Wahrsager und Spekulanten

Das Ressentiment gegen diejenigen, die im Kapitalismus scheinbar mühelos Geld verdienen, speist sich aus der Enttäuschung

Von Jean-Philipp Baeck

Es ist kein Zufall, dass sich die Zeitschrift Vice in einem Artikel der digitalen Währung „Bitcoin“ nähert, indem ein Autor sich im Selbstversuch bei seinen Investitionen durch Wahrsagerinnen lenken lässt. „Bitcoin“ ist als Währung populär geworden, seitdem Geschichten von Halbstarken bekannt wurden, die aus dem Kellerkabuff ihrer Eltern heraus durch Aktien-Spekulationen zu Millionären wurden. Eine scheinbar zauberhafte Geldvermehrung, ohne einen Finger krumm zu machen – außer für den Mausklick. Etwas entzaubert wurde die Magie nur durch Berichte über den befürchteten Einbruch des Währungskurses, die an das Risiko von Aktien-Spekulationen erinnerten.

Doch wer denkt heute bei der Vorstellung, in die Zukunft blicken zu können, nicht zuerst daran, einen Lottoschein auszufüllen? Der Gedanke des Reichwerdens, ohne arbeiten zu müssen, ist verlockend. In einer Welt jedoch, in der die Masse den Betrug um das Glücksversprechen ahnt, sich durch ehrliche Tellerwäscherei zur ersten Million hocharbeiten zu können, kippt die Verlockung in Hass: auf alle jene, die es vermeintlich ohne eigene Arbeit zu etwas gebracht haben.

WahrsagerInnen, Banker, Spekulanten bieten eine stereotype Projektionsfläche, die bedrohlich ist, weil sie an die Knechtschaft der Subjekte unter der Arbeit in kapitalistischer Gesellschaft erinnern. Statt die Voraussetzungen für die eigene Versagung zu ändern, wird die Verwirklichung des Glücks ohne Arbeit nach außen projiziert und sodann zur Vernichtung freigegeben. In der Dialektik der Aufklärung bringen Adorno und Horkheimer das Ressentiment gegen den „ewigen Juden“ Ahasver und die „schöne Zigeunerin“ Mignon an dieser Stelle zusammen, indem sie durch die scheinbare Verwirklichung des Glücksversprechens „die Zerstörungslust der Zivilisierten“ auf sich ziehen.

„‚Betteln, Stehlen und Wahrsagen‘ stehen im Gegensatz zu einer imaginierten ‚ehrlichen Arbeit‘ der sich abgrenzenden Restbevölkerung“, schreibt der Politikwissenschaftler Markus End über das Ressentiment gegen die „Zigeuner“. Sie lebten in dieser Vorstellung ebenso parasitär von den Menschen wie die Juden, die seit dem Mittelalter in Europa als Repräsentanten des Geldes gelten und weniger archaisch, in vermeintlich künstlicher Weise alle Regeln und Methoden der Zivilisation ausnutzten und überdehnten: durch ,„Wucherei“ und „Spekulation“.

Der böse Spekulant

Die NationalsozialistInnen ermordeten „Wahrsagerinnen“ und „Wucherer“, „Zigeuner“ und Juden, in Konzentrationslagern. Sie setzten industrielles und spekulatives Finanzkapital in einen falschen Gegensatz, unterschieden zwischen „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital und forderten die Brechung der Zinsknechtschaft. Dass „Spekulanten“ aber böse sind und in einem vermeintlichen Gegensatz zur „ehrlichen Arbeit“ stehen, ist bis heute Teil falscher Kapitalismuskritik.

Ein Beispiel dafür ist die absurde Freiwirtschaftslehre des Kaufmanns Silvio Gesells, auf der bis heute viele alternative Tauschringe, Schwundwährungen und „zinsfreie“ Regionalwährungen beruhen und die bis in linke, globalisierungskritische Kreise vertreten wird. Statt in der Ausbeutung des Menschen im kapitalistischen Produktionsprozess identifiziert er das Problem im Zins und der Spekulation. Der Gedanke einer Trennung in regionale Produktion gegen das spekulative Bankenwesen ist aber eine falsche Verkürzung der kapitalistischen Verhältnisse. Jeder noch so bodenständige Handwerker „spekuliert“ beim Kauf einer Kreissäge darauf, dass sie sich durch künftige Aufträge amortisiert.

Der Politikwissenschaftler Michael Heinrich erklärt: „Geld, Kapitalverwertung, Profitmaximierung und Zins spielen nicht nur am Rande der Gesellschaft eine Rolle, sie sind konstitutiv für die kapitalistische Produktionsweise.“ In einer Personalisierung der fetischistischen Verhältnisse des Kapitalismus werde ein Profitstreben nur den Großunternehmen und Banken vorgeworfen. Dabei gehe es im Kapitalismus – trotz realer Handlungsunterschiede – immer um Profit, bei großen genauso wie bei kleinen Kapitalisten.