heute in bremen
: „Es bringt nichts, Marx wie eine Bibel zu lesen“

Foto: Wolfgang Borrs/dpa

Ulrike Herrmann, Jg. 1964, ist Wirtschaftsredakteurin der taz. Zuletzt erschien: „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“.

Interview Jean-Philipp Baeck

taz: Frau Herrmann, ist Marx zur Folklore geworden?

Ulrike Herrmann: Nein, Marx ist unbedingt aktuell. Und er war einer der drei größten Ökonomen aller Zeiten.

Anlässlich seines 200. Geburtstags reden viele über Karl Marx und sein Werk. Den Kapitalismus wirklich abschaffen wollen davon aber nur noch wenige.

Das stimmt. Aber es wäre ein Missverständnis, zu denken, dass Marx den Kommunismus und Sozialismus beschrieben hätte. Sondern was in seinem Buch, dem Kapital, gemacht wird, ist eine sehr gründliche und über weite Strecken geniale Analyse des Kapitalismus.

Aber muss aus der Analyse des Kapitalismus nicht auch seine Überwindung folgen?

Was an Marx so aktuell ist, ist nicht nur der Inhalt, sondern auch das Vorgehen. Klar ist: Marx wollte den Kapitalismus überwinden – deswegen hat er ihn so gründlich analysiert. Und dieses Vorgehen ist für uns heute immer noch wichtig, weil wir ja auch den Kapitalismus überwinden wollen und müssen. Für uns steht dabei aber nicht mehr der Sozialismus im Zentrum, wie bei Marx, sondern das Umwelt- und Rohstoffproblem. Im Augenblick tun wir Menschen so, als hätten wir drei Planeten. Es gibt aber nur einen. Kapitalismus bedeutet Wachstum. Das heißt, wir müssen aus dem Kapitalismus aussteigen.

Nur aus Sorge um die Umwelt? Was ist mit den vielen sozialen Gründen?

Der Kapitalismus führt nicht notwendigerweise zu sozialen Problemen, sondern er ist ein System, das Wohlstand erzeugt – für die gesamte Gesellschaft.

Wie bitte?

Es gibt keinen ökonomischen Zwang, dass die Ungleichheit steigt.

Vortrag „Marx – das Kapital. Aktualität und Grenzen“ von UIrike Herrmann, Sabine Nuss (Rosa-Luxemburg-Stiftung) moderiert: 19 Uhr, Schwankhalle, Buntentorsteinweg 112/116

Was ist mit dem Klassenunterschied, durch den nach Marx’ scher Analyse nur der Kapitalist den Mehrwert aus der Betätigung der Arbeitskraft des Proletariers einstreicht?

Die Mehrwerttheorie ist falsch. Es gibt Ausbeutung, aber nicht den Mehrwert.

Das sehen aber viele anders.

Es bringt nichts, Marx wie eine Bibel zu lesen. Er war genial, aber nicht unfehlbar. Aber das entwertet nicht Marx. Auch ein Genie darf irren. Und es ist 150 Jahre später immer einfach, schlauer zu sein.