Dramatikerin des Terrors

Wiedergelesen (1): Engel Westphalen ist eine Dichterin der Goethezeit. In ihrer Tragödie „Charlotte Corday“ huldigt sie einer Attentäterin, die Ähnlichkeiten mit IS-Girlies aufweist

Engel Christine Westphalen, gemalt von Jean Laurent Mosnier Foto: bpk, Hamburger Kunsthalle, Elke Walford

Von Benno Schirrmeister

Engel Christine, was für ein Vorname! Ihren 260. Geburtstag könnte man auch feiern, am 8. Dezember: Hamburg, allerbeste Verhältnisse, Bürgerkapitän Jacob von Axen ist ihr Herr Papa, Ernst Friedrich Johann Westphalen, der spätere Senator, wird 1785 ihr Gemahl. Aber der 13. Juli ist der bessere Anlass, um an Engel Christine Westphalen zu erinnern, die fast völlig vergessene Dichterin. Schließlich soll es mehr über die Inhalte gehen, und dann auch lieber mal nicht um die Liebesgedichte, sondern um ihren literarischen Umgang mit einem Ereignis, das Europa erschüttert hatte, zehn Jahre bevor Westphalen es aufgriff.

Unter dem Vorwand, Konterrevolutionäre aus ihrer Heimatstadt Caen anzuzeigen, hatte sich am 13. Juli 1793 Charlotte Corday eine Audienz beim Präsidenten des Jakobiner-Klubs und Abgeordneten des Convent National, Jean-Paul Marat, verschafft. Sie suchte ihn in seiner Wohnung in der Rue des Cordeliers auf. In der Badewanne, in der er zur Linderung seines schmerzhaften Exzems arbeitet, empfängt der Publizist die vermeintliche Denunziantin. Das Messer hatte Corday tags zuvor für 40 Sous erworben. Wie ein durchgeknalltes IS-Girlie sticht sie auf Marat ein, wortlos. Die Klinge trifft ihn direkt ins Herz. Zu Hilfe. Marat ist tot.

Corday leistet keinen Widerstand. Trotzdem wird sie vorsichtshalber mittels eines Stuhls erst in Schach gehalten, dann niedergeschlagen.

Der Prozess ist kurz, die Guillotine scharf.

Und die Freunde der Republik … gespalten: Politisch ist die Tat zutiefst zweideutig. Ist es bis heute. Auch wenn Quatschsalber wie Michel de Onfray und rechtsradikale Restauratoren seit 200 Jahren versuchen, sie für sich zu vereinnahmen. Die offizielle Revolutionsregierung ruft Marat zum Märtyrer der Freiheit aus, es werden Altäre für ihn errichtet, die Stadt Le Havre benennt sich um in Hâvre-Marat. Den Beinamen legt sie 1795 wieder ab. Als Adam Lux als Abgeordneter des Rheinischen Nationalkonvents in Paris eine Apologie für Corday verfasst, wird auch er hingerichtet.

Aber eben: Der war ja keineswegs aus Mainz nach Paris gezogen, um Konterrevolution zu machen. Auch Hamburgs Großpoet Friedrich Klopstock, der wichtigste deutsche Dichter vor Goethe und ein glühender Anhänger der Republik, die ihn zum Ehrenbürger gemacht hat, singt das Hohe Lied der „Männin Corday“. Und er schmäht in Oden den Publizisten Marat, der Vordenker und Agitator, aber an keiner Stelle Akteur jenes Staatsterrors ist, der erst nach Cordays Anschlag zur vollen Entfaltung kommt: Eine „Klubbergmunizipalgüllotinoligokra-/Tierepublik!“ habe er aus Frankreich gemacht – was, nebenbei gesagt, eine der besten polemischen Wortschöpfungen ist, die je gedichtet wurden.

Im vierten Akt aufs Schafott

Mit Klopstock steht Engel Westphalen in Kontakt. Wahrscheinlich hat er auch ihren Salon in der Großen Reichenstraße 42 besucht. Das heute nicht mehr stehende Haus war zur Jahrhundertwende ein Treffpunkt der Intelligenzia Hamburgs: Protagonisten der Reaktion wie Louis Philippe, der spätere Bürgerkönig, sind hier ebenso zu Gast wie norddeutsche Jakobiner.

Als Engel Christine ihr Drama 1804 anonym in einem Hamburger Verlag veröffentlicht, nennt sie es „eine Tragödie“, und das ist bei einem Stück über einen fast tagesaktuellen politischen Mord eine bemerkenswerte Ansage. Der kühnen Gattungsbehauptung entspricht ein ausgeprägter Gestaltungswille, der zu dramaturgisch ungewöhnlichen Entscheidungen führt, die meist als Anfängerinnenfehler gedeutet werden.

So gestaltet Westphalen keinerlei Begegnung zwischen Täterin und Opfer. Den Anschlag selbst lässt sie zwischen der ersten und zweiten Szene des Dritten Akts fast beiläufig passieren: „Die Scene bleibt einige Augenblicke leer“, lautet dort ihre Regieanweisung, dann kommt Charlotte aus dem Kabinett, bleich und erschrocken und bekennt „leiser, anfangs eiliger und unterbrochen, doch nicht ängstlich“, dass „es“ geschehen sei. Nicht einmal Blut überströmt kehrt Corday aus dem Cabinet zurück. Gerade ein paar Spritzer hat sie abbekommen.

Ungeschickt wäre das, wenn es Westphalen um die Tat selbst gegangen wäre, oder um ein Psychogramm der Täterin. Aber das scheint eben nicht ihr Anliegen zu sein, weshalb sie auch, hochgradig originell, ihre Titelheldin bereits im vierten Akt mit einer grandiosen Wendung aufs Schafott schickt: Sie bekommt – historisch korrekt – von einem Gefangenenwärter ein blutfarbenes Gewand überreicht, schlägt es hochherzig um und sagt dann: „Ganz recht, geschmückt ward immer ja das Opfer.“

Dann wird sie hinausgeführt, und „die Scene verwandelt sich in einen freien Platz in Paris“, und das ist es: Danach löst sich einfach die so geweitete Szene auf in die ewige Sphäre, in der eine namenlose Stimme und der Chor als ihr Echo Schicksal und Natur apostrophieren – und Visionäres künden: „Doch ihres Werks noch kaum enthüllte Keime / Seh’ich zu edler Reife schnell gedeihen; / Durch unbegränzte Zeit, entleg’ne Räume, / Sich Saat an Frucht – und Frucht an Blüten reihen.“ Die Apotheose beginnt im Untergang.

Ihr widmet sich der fünfte Akt und stellt klar: Dieses Drama handelt nicht vom Leben und auch nicht vom Tun seiner Figuren, sondern von ihrem Ruhm und ihrem Nachleben. Statt um politisches Geschehen geht es um dessen Deutung, und die Macht, die sie zu begründen vermag. Expliziter hat wohl kaum jemand vor Westphalen diesen in und durch Dichtung ausgetragenen Kampf je zum Gegenstand von Literatur gemacht, nicht jedenfalls vor 1800.

Unsere Serie stellt in loser Folge Texte und literarische Werke vor, die von Norddeutschland handeln oder deren Autor*innen hier gelebt haben oder beides – und auf die aufmerksam zu machen es Gründe gibt.

Wiedergelesen werden Bücher, weil jeder meint, sie zu kennen, sie aber doch ganz anders verstanden werden müssten, weil keiner sie kennt, obwohl jeder sie kennen sollte, weil man nicht loskommt von ihnen, weil sie in Vergessenheit geraten sind oder weil sie zu Unrecht Ruhm und Publikum eingeheimst haben.

Ganz in diesem Sinne fungiert bei ihr die Hinrichtung der Heldin eben nicht als Katastrophe, sondern mehr als diese aufhaltendes Moment. Der Untergang, das ist die Überführung Marats ins Pantheon „auf einer Bahre getragen, begleitet von den Deputirten des Convents, und vielen Gens d’armes“ – ein Triumphzug mit „gedämpfter Trauermusik“. Während der sich jedoch „langsam von der rechten Seite des Theaters, der Vorderbühne dicht vorüber, zur linken bewegt“, steigt „der Genius der Wahrheit“ vom Himmel herab und Westphalen lässt ihn sprechen: „Dort seht das Laster, seht’s im Siegsgepränge!“ und noch einmal Charlotte als Gegenbild, als „eine reine Perle“ beschwören: „Sie fiel, ein Opfer ihrer hohen Tugend.“

In eingängigen Versen führt sie die Gegenüberstellung weiter aus: „Charlotte heiligte das Blutgerüst. / Ein Blick zu Ihr kann Vorurtheile tödten; / (Mit einem Blick auf Marats Leichenzug.) Da Sein Triumph erhöhte Schande ist. / Vergesst der Zeiten grause Schattenseiten, / Ein schön’res Licht wird sich von dort verbreiten.“

Den Mord entübelt

Es ist anrührend, aber auch beklemmend, wie diese Dichtung, statt ein Verhältnis zur Gewalt zu bestimmen, den Mord erst zum Verschwinden bringt, um ihn dann, das Übel schlechthin, zu entübeln: Herrschaft entsteht in dem Moment, in dem es gelingt, die sie konstituierende Gewalt aus der Wahrnehmung zu löschen und so die Kompetenz zu erreichen, zwischen gutem und schlechtem Terror zu unterscheiden.

Westphalens Drama ist für das Aufkommen bürgerlicher Macht gewiss nicht ausschlaggebend, und groß Einfluss darauf hat es auch nicht entfaltet. Wohl nie ist es über eine Leseaufführung hinausgekommen. Es macht jedoch einsehbar, wie Herrschaft entsteht. Vielleicht hat man es deshalb lieber rasch vergessen.