Zeitloses Ungeheuer

So fremd war sich der Mensch selten: In Oldenburg inszeniert Luise Voigt George Orwells Dystopie „1984“

Kaum Körperkontakt, reduzierte Bewegungen: Auch die Liebenden Julia und Winston sind einander fremd Foto: Stephan Walzl

Von Jan-Paul Koopmann

Grau ist der Terrorstaat, meist dunkel und so sinnlich wie ein verwaschenes Unterhemd. Wo George Orwells Roman „1984“ noch mit den Gerüchen von gekochtem Kohl und nassen Fußmatten beginnt, herrscht im Oldenburgischen Staatstheater eine sterile Unwirklichkeit aus grauen Wänden, grauer Kleidung, kaltem Licht und monotonen Beats im Hintergrund. Aber nicht nur das riechende Gemüse fehlt unter der Regie von Luise Voigt – auch der Big Brother spielt hier höchstens eine Nebenrolle.

Denn diese Televisoren etwa, die im Dauerbetrieb Privates senden und Propaganda empfangen – heute sind sie angesichts von Smartphones und digitalen Assistenten weder Zukunfts- noch Schreckensvision. Spannender ist die andere Hälfte der Geschichte: wie Propagandalügen Wirklichkeit konstruieren können. Der 70-jährige Roman dürfte sein zweites Comeback weit eher Donald Trumps „alternativen Fakten“ verdanken als der Angst vor Spitzeleien.

Luise Voigts totalitärer Staat ist ein zeitloses Ungeheuer, entkoppelt von der Vergangenheit. Statt aufs Neue nach seiner Aktualität zu fragen, entwickelt das Stück einen klaustrophobischen Zustand gleichgeschalteter Menschen. Und das fesselt über drei Stunden in einer Intensität, die der von schon drei Generationen durchgekaute Stoff kaum noch erwarten ließ. So fremd war sich der Mensch selten. Weil im Überwachungsstaat keiner sagt, was er denkt, sprechen die Figuren meist aus dem Off, ihre Bewegungen sind streng choreografiert, uniform und überzeichnet: eine Maskerade für Denken und Gefühle.

Da ist etwa die Liebesgeschichte von Wins­ton Smith und seiner Genossin Julia, die Klaas Schramm und Franziska Werner so präzise wie herzerweichend spielen. Als sie intim werden, wissen sie kaum etwas miteinander anzufangen. Ihr Körperkontakt ist minimal, sie umkreisen einander, verschränken zum Höhepunkt mal kurz die Beine – und sprechen immer noch nicht miteinander. Das übernehmen zwei garstig dreinblickende Overallträger am Bühnenrand, während die Liebenden selbst nur immer wieder keuchend nach Luft schnappen.

Strenge mechanische Bewegungen

Hinter den abstrakten und expressiv überzeichneten Bewegungsabläufen steckt die Meyerhold’sche Biomechanik. Mit der Methode trat die frühsowjetische Theater­avantgarde an, den neuen Menschen zu formen: Schauspielarbeiter, die überflüssige Bewegungen abgeschafft und einen Katalog wiederholbarer Übungen einstudiert haben. Die Verbindung zum Stück erschließt sich unmittelbar, wo die Orwell-Arbeiter betont motiviert grinsend zum Dienst schweben, um nur ja nicht aufzufallen.

Sie erinnern kurz an die Debatten um intelligente Kameras, die nach den unbewussten Zuckungen nervöser Selbstmordattentätern suchen sollen. Aber Voigts Inszenierung muss sich gar nicht weiter scheren um ausdrückliche Bezüge zum Heute – das bekommt der Stoff allein hin.

Und so steigt die Inszenierung immer tiefer ein in ästhetischen Fragen nach Schauspielmethodik und der Kunst. Selbst die flackernd an die Wand projizierten Deckenlampen des Ministeriums entpuppen sich als vielfach kopiertes Element aus Picassos „Guernica“. Voigt führt schließlich Meyerhold (gespielt von Thomas Lichtenstein) selbst in die Handlung ein. Zunächst als Schauspieltrainer, der Besetzung und Publikum einen Crashkurs in Sachen Biomechanik gibt – später in biografischen Szenen als Opfer von Stalins Säuberungen.

Darin steckt eine Ambivalenz, die Orwells Roman in dieser Konsequenz nicht kennt: dieser Drill zur uniformen Bewegung nämlich, der einerseits das totalitäre System spiegelt, aber vielleicht auch eine kleine Chance darstellt, sich ihm zu entziehen. Dass Orwells grundsätzliche Kritik am Totalitarismus über die Meyerhold-Episoden eine leichte Schlagseite zum Antikommunismus bekommt, ist der Preis dafür. Daran ändern auch die immer wieder an die Wände geworfenen Zitate aus Hannah ­Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ wenig.

Dennoch: „1984“ ist in Oldenburg weder Mahnen vor ein bisschen mehr Überwachung noch die Abrechnung mit einer vermeintlich erledigten Vergangenheit – sondern eine mitunter brutale Spurensuche dort, wo die drohende Katastrophe von morgen schon stattgefunden hat.

Mi, 12. 9., 20 Uhr, Staatstheater Oldenburg; nächste Aufführungen: 12./14./18./23. 9.