Fidelio – die Mängelliste

Nach zwei großartigen Bremer Opernproduktionen scheitert Regisseur Paul-Georg Dittrich an Beethovens einziger Oper, weil er gegen die Musik inszeniert. Dabei ist die ja das Beste

Fidelio Nadine Lehner muss starren, das Orchester ist weggesperrt und im Hintergrund laufen Parodien Foto: Landsberg/Theater Bremen

Von Benno Schirrmeister

Was tun mit einer rundum missglückten Inszenierung? Cool wäre, den „Fidelio“ in der Regie von Paul-Georg Dittrich als blöden Ausrutscher eines tollen Theatermachers einfach zu ignorieren: Bremen verdankt Dittrich immerhin eine wuchtige Interpretation von Alban Bergs „Wozzeck“ und eine beeindruckende „Damnation de Faust“ von Hector Berlioz. Geht halt der „Fidelio“ mal schief, na und?

Aber zum Schweigen war die Musik zu gut, deren Triumph die Regie durch einen klugen Rückzug aus der Aufführung in der letzten halben Stunde ermöglicht: Und dann ertönt da eine filigran ausgearbeitete dritte Leonoren-Ouvertüre, die, in drängendem bis rasendem Tempo, Yoel Gamzou aus den Philharmoniker herauskitzelt, die dem Publikum einfach nur Hingabe ans Hören übrig lässt, wie geil ist das denn. Und dann hüllen im großen Finale, in den Olymp platziert, Chor und König von dort oben den Theatersaal in eine oratoriale Wolke ein, der sich kein hörender Mensch entziehen kann – eine gefährliche Wolke, vergiftet, vielleicht, mit Heilrufen, Rachejubel, Rückkehr der Monarchie, Reprise der Reprise und durchglüht von brutalstem C-Dur – aber gewaltsam schön und unerbittlich zärtlich. Gänsehaut. Und auch mitten in der Oper: Mit tiefer Einsicht in die Komposition gestaltet Nadine Lehner die vergrübelte und große Leonoren-Arie, und wie traumsicher und rein begleiten sie die drei Hörner plus Fagott!

Dittrichs Ansatz, die Verstrickungen des Werks in seine Rezeptionsgeschichte zu thematisieren, leuchtet ja ein. Denn diese Oper drängt sich zur propagandistischen Vereinnahmung geradezu auf: Sopran Leonore, verkleidet als Gefängniswärterassistent Fidelio, macht sich im Stück auf die Suche nach seinem zu Unrecht eingekerkerten Tenor Florestan, um ihn zu befreien. Das Libretto speist sich aus einem vom Ex-Terreuristen Jean-Nicholas Bouilly verfassten Drama „basé sur une histoire vraie“, mit dem der sich in der Direktoriumszeit nach Repressionen durchs Thermidorianer-Regime erfolgreich versucht hat, zu entjakobinisieren. Bei Dittrich soll nun Nadine Lehner in der Titelpartie auch als Engel der Geschichte auftreten, der mal auf epochale Fidelio-Inszenierungen, mal ins Publikum starrt.

Und das tut Lehner denn auch, der Kostümbildnerin Anna Rudolph ein Oberteil geschneidert hat, dessen V-Ausschnitt in Anlehnung an Eugène Delacroix’Freiheits- und National-Allegorie Marianne bis weit über die rechte Schulter verrutscht wurde. Alles okay also, bloß ergibt sich in der Umsetzung des Settings eine Reihe gravierender Mängel, die nicht dialektisch eingebunden – und deshalb nur aufzulisten sind:

1 Der Ansatz leuchtet zwar ein – aber er reicht nicht aus, um einen Abend zu gestalten, und vor allem vermag er der Inszenierung, weil er auf jedes Werk zu jeder Zeit zutrifft, keine aktuelle Dringlichkeit einzuflößen.

2 Die historischen Inszenierungen werden in einer Guckkasten-Bühne auf der Bühne auf unzureichender Recherche- und Wissensbasis nachgestellt und verkommen dadurch zu parodistischen Banalisierungen.

3 Die Bildsprache verharrt im Gemeinplatz: Für die Wiener Kärntnerwall-Uraufführug wird als Dekor ein Druck des Bastille-Sturms gewählt, und, schlimmer, für die epochale Aufführung am Leningrader Theater der Werktätigen muss, mangels einschlägiger Recherche, als Bühnenbild ein Panzerkreuzer Potemkin-Zitat herhalten, nach Sergeij Eisensteins Film. Ja, selbstredend ist es der Kinderwagen auf der Treppe.

4 Damit Lehner von weiter weg auf diese Aufführungskarikaturen schauen kann, wurde ein Deckel auf den Orchestergraben gelegt. Unter dem musizieren die Philharmoniker engagiert und temperamentvoll, aber es tönt dann eben doch wie aus dem Pappkarton.

5 Damit der Engel der Geschichte dabei nicht in den Orchestergraben fällt, ist rundherum ein Stahlgeländer angebracht, das den freien Blick als schwarzer Balken über Augen, Brustkorb oder Beinen der Solist*nnen versperrt.

6 Der Wechsel von der Revue in die Präsenz klappt nicht: Zwar gelingt es, die Brüchigkeit des Werks zu betonen, indem auf die Opernparodien aus Akt I nach der Pause dramatisches Umherirren auf und an einer weit, weit hinten im Lointain platzierten Fest-Tafel tritt, bloß wird dem Unernst jener Reprisen dadurch noch kein der Dringlichkeit ihrer Vorlagen entsprechendes heutiges Fidelio-Anliegen entgegengesetzt.

7 Auf und am Tisch im Lointain singen die Solist*innen in einer Gruppe von 60 Gästen, die, um im Zuschauerraum Platz für den Schlusschor zu schaffen, aus dem Parkett auf die Bühne gebeten werden. Die Solist*innen singen mal sie, mal den Saal an – sodass die Dynamik konfus wird: Zumal die Männerpartien, selbst Christoph Heinrichs gediegener Bass und erst recht Christian-Andreas Engelhardts lyrischer Tenor, verkümmern da hinten recht kläglich.

Wieder: So, 23. 9., 18.30 Uhr und 30. 9., 15.30 Uhr, Goetheplatz