Brand zwischen den Glanzfassaden

Zum zweiten Mal in diesem Jahr brennt in Paris ein mit Afrikanern belegtes Haus nieder. 17 Menschen sterben, davon 14 Kinder. Die baulichen Gefahren in dem von 130 Menschen bewohnten Gebäude waren der Stadtverwaltung schon lange bekannt

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Alles“ habe er gesehen, sagt Diaby. Und wiederholt ganz langsam: „Alles.“ Aber erzählen kann er nichts. „Keine Worte“, sagt der 26-jährige Malier. Die Fäuste hat er tief in den Taschen seiner Jeanshose vergraben. Zehn Stunden nachdem die Flammen gelöscht sind, lehnt er immer noch an der dicken steinernen Säule unter der Metrolinie 6, die an dieser Stelle im 13. Pariser Arrondissement oberirdisch fährt. Diaby starrt auf das Haus hinter den Absperrungen aus Metall und rot-weißen Plastikbändern. Auf die schwarzen Flecken an der grauen Fassade. Auf den rosa Kleiderbügel, der leer in dem zweiten Fenster von links im dritten Stock baumelt. Und auf die verkohlten Kinder-T-Shirts, die unter dem Nachbarfenster flattern.

17 Menschen sind in der Nacht zu gestern in der Nummer 18 am Boulevard Vincent Auriol zu Tode gekommen. Davon 14 Kinder und eine Hochschwangere. Das Feuer brach kurz nach Mitternacht in dem Treppenhaus aus. Binnen weniger Minuten breitete es sich über die hölzernen Treppen und Gänge in dem sechsstöckigen Bau aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts aus, in dem 130 Menschen lebten. An den Fenstern schrien kleine Kinder um ihr Leben. Im Inneren schütteten Männer eimerweise Wasser in die Räume. Eine Frau flüchtete sich in eine Duschkabine. Eine andere stellte ihre Kinder in den Schrank. Aus allen Stockwerken sprangen Menschen auf den Boulevard. Die 200 Feuerwehrleute brauchten zweieinhalb Stunden, um den Brand zu löschen.

Es war das zweite Großfeuer in einem von Afrikanern bewohnten Pariser Haus in diesem Jahr. Im April brannte das Hotel „Opéra“ im 9. Arrondissement aus. Bilanz: 24 Tote.

„Alle wussten, dass dieses Haus gefährlich ist“, sagt Diaby, „auch der Präsident Chirac.“ Der junge Mann hat selbst ein paar Nächte in dem Haus verbracht. Aber weil er keine Aufenthaltspapiere hat und keine Familie, musste er gehen. Jetzt lebt er wieder auf der Straße. Oder in besetzten Häusern. Oder in Armenhotels. „Selbst wenn du tausende Euros Miete zahlen kannst, kriegen wir hier keine Wohnung“, sagt ein Freund, der neben Diaby an der Säule lehnt. Warum? „Weil wir black sind. Schwarz.“

Das graue Haus mit den schwarzen Flecken an der Fassade steht mitten in einem Pariser Boomgebiet. Direkt gegenüber ist kürzlich ein Büroneubau aus Beton und Metall eingeweiht worden. Wenige Meter entfernt ragen die vier gläsernen Türme der Ende der 90er-Jahre eröffneten Riesenbibliothek „François Mitterrand“ in die Luft. Die neuen Eigentumswohnungen rundum sind begehrte Objekte.

In dem grauen Haus hielten manche der 27 Familien Katzen. „Damit sie die Mäuse und Ratten jagen“, erzählt die 15-jährige Khady. Sie wohnt in der Nachbarschaft. Ging mit Kindern aus dem grauen Haus in dieselbe Schulklasse. Jetzt erinnert sie sich schluchzend an eine Lehrerin, die die Behörden wegen der gefährlichen Wohnverhältnisse verständigt hat. Eine andere junge Frau erzählt von dem Rabbiner aus der Nachbarschaft, der neulich wegen der Elektroleitungen bei der Stadt nachgefragt hatte. Vor Monaten hat die Pariser Stadtverwaltung schließlich die fällige Grundrenovierung angekündigt. Dabei blieb es.

Die Älteren im Haus stammen aus dem Senegal, aus Mali, aus der Elfenbeinküste und aus Gambia. Alle haben Aufenthaltspapiere in Frankreich. Die Männer haben Jobs. Viele als Müllmänner. Andere in privaten Reinigungsfirmen. Oder auf dem Bau. Die meisten Kinder, auch die toten, haben die französische Staatsangehörigkeit.

Das graue Haus war vor mehr als einem Jahrzehnt als Provisorium für afrikanische Familien eröffnet worden. Die Wohltätigkeitsorganisation „Emmäus“ betrieb es. In die Wohnungen zogen Familien ein, die vorher in Zelten auf den umliegenden Brachgeländen gewohnt hatten. Häuser wie dieses gibt es in Paris zu Hunderten.

Seit der Nacht zu gestern sind die Überlebenden in einer Turnhalle an der benachbarten Place d'Italie untergebracht. Der französische Innenminister, der noch in der Brandnacht am Boulevard Vincent Auriol auftauchte, will jetzt alle Pariser Häuser auf Brandgefahren und Überbelegung untersuchen. Und der französische Staatspräsident spricht den Familien sein Mitgefühl aus.

Diaby, der alles gesehen hat und nichts erzählen kann, hat kein Vertrauen in Politiker. Er hofft auf die Hilfe von Allah. Sein Kumpel, der im weißen Anstreicheranzug neben ihm an der steinernen Säule lehnt, sagt: „Allah kommt nicht herunter, um Häuser zu bauen.“