Nur Reporter haben nasse Füße

VON PHILIPP MAUSSHARDT

Den ganzen Tag über hatten sie die Pegelstände durchgegeben und jetzt, wo es wichtig zu wissen wäre, ob die Illerbrücke noch passierbar ist, bringen sie in SWR 4 die Zillertaler mit ihrem Lied „Es ist Sommer auf der Alm“. Verstehe einer die Radioredakteure. Der Moderator entschuldigt sich am Ende des Titels und meint, das Lied drücke nur „eine Hoffnung“ aus. Es ist Mittwochabend 22.30 Uhr und auf der A 6 Ulm–Füssen herrscht nur schwacher Verkehr in Richtung Alpen. Fernpass gesperrt. Inntalautobahn gesperrt. Grenzübergang Füssen gesperrt. Wer nicht muss, fährt nicht nach „Land unter“ (Abendzeitung) oder nach „Bayern ertrinkt“ (Bild).

Genau auf der Grenze zwischen Baden-Württemberg und Bayern, auf der Donaubrücke, die Ulm von Neu-Ulm trennt, drehen sich wie bestellt die ersten Blaulichter um die Wette. Ein Krankenhaus auf bayerischer Seite wird evakuiert, weil das Wasser inzwischen mit Macht aus dem Alpenraum nach Norden abfließt. Es regnet noch immer, und in einer Sondersendung der ARD hatte ein Reporter des Schweizer Fernsehens ja doch tatsächlich gesagt, dass wenn es weiter regnet, das Hochwasser noch weiter ansteigt. Das klang zumindest glaubwürdiger als der Satz der Reporterin vom Bayerischen Fernsehen, die am Dienstag aus Eschenlohe bei Garmisch-Partenkirchen von einer „dramatischen Lage“ berichtete, weil sie und ihr Kameramann bei der Arbeit nasse Füße bekommen hatten.

Ein Wohnwagen im Wasser

Die Ausfahrt Kempten ist natürlich gesperrt. Aber um diese Uhrzeit kann man sich unbemerkt an den Verbotsschildern vorbeimogeln. Auch Polizisten haben in Krisenzeiten Dienstschluss. Nur bei der Freiwilligen Feuerwehr Kempten, die ihr neues Gerätehaus ausgerechnet ans Ufer der Iller gebaut hat, herrscht Hochbetrieb. Dort pumpen sie seit den frühen Morgenstunden den eigenen Keller aus. An einer Fußgängerbrücke in der Altstadt steht der Feuerwehrmann Wolfgang Schiochet, beißt abwechselnd in eine Leberkäs-Semmel und buchstabiert seinen Namen. „Mit ce ha in der Mitte, kommt aus dem Italienischen.“ Schiochet bewacht nun schon seit zwölfeinhalb Stunden das Wasser an der Brücke, und wann immer sich Schaulustige dem Ufer nähern, pfeift er scharf mit den Fingern. Es ist zehn Minuten vor Mitternacht und Schiochet wartet auf seine Ablösung. „An der oberen Brücke hängt ein halber Wohnwagen“, sagt er, „ist wohl vom Campingplatz in Sonthofen.“ Aber wirklich bedrohlich findet er die Lage nicht. „Wenn man die Bilder aus Österreich oder der Schweiz sieht, dann ist das hier gar nichts.“

Trotzdem wurden wegen „gar nichts“ die Uferanwohner Kemptens sowie zwei Altenheime und ein psychiatrisches Krankenhaus vorsorglich evakuiert. Ihr aller neues Zuhause heißt „Big Box Allgäu“, die Veranstaltungshalle der Stadt Kempten, die, vor zwei Jahren gebaut, „sechstausend Personen stehend fasst“, wie der Feuerwehrmann von der Illerbrücke weiß. Jetzt, kurz nach Mitternacht, liegen dort 225 Kemptener auf Feldbetten. Gleich werden sie aber von 400 Römern übertroffen: Die Reisebusse mit jungen Papstpilgern, die auf ihrem Weg von Köln zurück nach Rom nicht mehr über die Alpen weiterkommen, sind gerade vor der „Big Box“ vorgefahren und etwas verwundert, obwohl sie ja an Himmelsfügungen gewohnt sein müssten, nehmen die Jung-Katholiken ihre Schlafplätze ein.

Wer will, bekommt auch zu dieser späten Stunde in der Cafeteria der Big Box noch einen Kartoffeleintopf mit Wiener Würstchen. So ergeben sich hier im Voralpenland in einer kühlen Augustnacht des Jahres 2005 ganz ungewöhnliche Tischnachbarschaften. Drei Bewohner des psychiatrischen Krankenhauses spielen „Mensch ärgere dich nicht“, daneben liest eine alte Frau aus dem Seniorenheim einen Rosamunde-Pilcher-Roman, da sie „wegen ihrer Rücken-OP nicht auf einem Feldbett schlafen kann“, und drei junge Türken ärgern sich, dass man sie nicht in ihre Wohnung lässt: „In der Türkei wäre das bisschen Wasser noch keine Katastrophe.“

Richtung Sonthofen ist die Bundesstraße durch Abschrankungen gesperrt. Diesmal mit gutem Grund: In einer spiegelnden Wasserfläche endet die B 19, und beißender Heizölgeruch erzählt, dass in dem Gebäude daneben der Öltank überflutet wurde. Gut, wer jetzt eine Landkarte mit kleinem Maßstab besitzt: Sondert – Humbach – Untermaiselstein … – alle Feldwege führen nach Sonthofen. Die Ausschilderung zum Campingplatz ist noch das einzige, was an diesen Ort erinnert. Dort, wo bis Mittwoch direkt am Fluss die Urlauber ihren Bergrausch ausschliefen, liegen nur noch Zeltefetzen und Wohnwagenwände. Zwei Helfer des Technischen Hilfswerks (THW) sitzen am Eingang des verwüsteten Platzes und wissen nicht so recht, was sie um zwei Uhr morgens hier noch bewachen sollen. Die evakuierten Urlauber liegen um diese Zeit schon in einer nahen Bundeswehr-Kaserne.

Von Sonthofen nach Garmisch-Partenkirchen sind es eigentlich nur rund 70 Kilometer. Dazwischen aber liegen der Jochpass und der Gaichtpass und viele kleine Bachläufe, die in den vergangenen 24 Stunden mal kurz gezeigt haben, wie ein Wildbach rauscht. An einigen Stellen spritzt das Wasser bei der Durchfahrt noch meterhoch zur Seite, und das letzte Stück die Loisach hinunter wäre ohne die Hilfe eines freundlichen Feuerwehrmannes nicht mehr gelungen. Aber der weiß zum Glück einen Schleichweg durch den Wald in die „von der Außenwelt abgeschnittene Stadt“ (Bayerischer Rundfunk). Aber in Garmisch-Partenkirchen sind Loisach, Katzenbach und Kanker am frühen Mittwochmorgen schon wieder in ihr Bett zurückgekehrt. Die Stadt, deren Hauptstraße noch am Mittag ein einziger Fluss gewesen war, schläft noch und wirkt schon wieder aufgeräumt.

Eschenlohe räumt auf

Schlimmer hat es die Bewohner des nur 15 Kilometer weiter nördlich gelegenen Dörfchens Eschenlohe getroffen: Dort laufen auch bei Sonnenaufgang noch die Pumpen an fast jedem Haus. Eschenlohe zählt zu jenen bayerischen Ortschaften, in denen sich die männliche Bevölkerung mit Erreichen der Geschlechtsreife nur noch mit Hut aus dem Haus traut, damit man sieht, wo der Kopf nach oben hin zu Ende ist und der Himmel beginnt. Diese Hutmenschen also haben sofort nach Abfluss des Wasser damit begonnen, die Terrassen abzuspritzen, die einmal so sauber aufgestapelten Holzscheite in den Nachbargärten zusammenzuklauben und wieder millimetergenau aufzuschichten, und im Edeka-Laden samt Bäckerei verkauft Frau Luidl frische Semmeln, als wäre nichts gewesen.

Hier war am Dienstag das Flüsschen Loisach zum Alpen-Jangtse angeschwollen und hatte viele Keller völlig und manche Wohnstube kniehoch unter Wasser gesetzt. Vergleiche zu den Schäden, die das Elbe-Hochwasser vor drei Jahren in Ostdeutschland anrichtete, will aber nicht einmal Kreisbrandmeister Kurt Schweda ziehen. Allerdings sei in manchen, nicht rechtzeitig geräumten Kellern und Garagen jetzt „ois im Oasch“, was so viel heißt, dass kaum noch etwas davon zu gebrauchen ist.

Es scheint ein sonniger Tag zu werden: Die Osterfeuerspitze im Westen von Eschenlohe leuchtet im Sonnenlicht und die Fahrzeugschau der Katastrophenhelfer, die für ein Fernsehteam mal eben noch geschwind ein paar Sandsäcke abfüllen, erinnert eher an eine Messe für Einsatzgeräte als an einen wirklichen Notfall: Raupen getriebene Bergungsschlepper der Bundeswehr, Unimogs mit allen Aufbauvarianten, Sechsachser für schweres Gelände.

In einer Stunde wird der deutsche Innenminister Otto Schily Eschenlohe im Hubschrauber überfliegen, um sich ein Bild von der Katastrophe aus der Luft zu machen. So lange müssen alle Einsatzkräfte noch vor Ort bleiben. Die ersten Wanderer tauchen auf.