Katastrophische Sehnsucht

Der große Sommerregen hat Südbayern geflutet – und alle politische Welt denkt, dem Kanzler nütze dies nichts. Richtig: So wie ihm die Flut in Ostdeutschland vor drei Jahren nicht behilflich war

VON JAN FEDDERSEN

Diese Umstände zu dieser Zeit mussten politische Fantasien wecken. In den Alpen hat es in diesem Sommer mächtig geregnet. So heftig sogar, dass, wie bei einer Schneeschmelze im Frühling, die Flüsse reißend über die Ufer traten. Sondersendungen zeigten Ansiedlungen wie Kempten, Sonthofen oder Garmisch-Partenkirchen, gelegen an Iller oder Isar, aus der Luft. Katastrophisches im Bildangebot? Mäßig. Horrorähnliches in Kommentaren? Im Überfluss.

Und jeder denkt ja ohnehin: Die Flut, die nützt dem Kanzler gar nix. Das heißt: Es lag bereits eine Erwartung in der Luft, die mit dem konkreten Anlass, möglicherweise nichts als einer Laune der Natur, kaum etwas zu tun hat. Nämlich jene, dass der Kanzler auf eine Naturkatastrophe warten müsse, weil er mit einer solchen doch, wahlarithmetisch gesehen, vor drei Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht hat.

Die Unterstellung, die in dieser unheilgesättigten Fantasie mitschwingt, lautet, Schröder habe als Kanzler nur bestätigt werden können, weil ihm der Sommerregen, zerstörerisch auf Ansiedlungen wirkend in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, zupass kamen. Da habe er sich als Krisenmanager beweisen können – mit Politik habe dies nichts zu tun gehabt.

Wahr ist aber, dass diese Fantasie sich Politik nur noch als Post-Katastrophen-Marketing vorstellen mag – und wahr ist obendrein, dass Schröder 2002 in den Ostländern nicht gewann, sondern Stoiber dort verlor. Stocksteif im Anzug stiefelte Stoiber durch die Flutgebiete, während gleichzeitig Bilder von einem hemdsärmlig-zupackenden Schröder in den Zeitungen zu sehen waren. Zudem hatte der bayerische Unionskandidat zu einem Krisengipfel des Ostens gerufen – doch vergessen, den brandenburgischen SPD-Ministerpräsidenten Matthias „Deichgraf“ Platzeck hinzuzuladen. So war Stoibers Idee entlarvt als eine Wahlkampfattitüde. Schröder musste nichts machen – er brauchte lediglich auf die Funktionalisierung der Flut durch die Opposition warten.

Der Unterschied der Ost-Flut vor drei Jahren zu den aktuellen Überschwemmungen ist vor allem aber, dass bislang alles nur in Maßen kriselt. Aus Bayern erreichen einen stattdessen Mails, dass das Wasser in die Keller gewiss schwappen könne, doch man denke mit Entspanntheit an die Versicherungspolicen, die man für den Schadensfall in petto halte, und zwar im Trockenen. Ebenso different scheint, dass, aller medialen Hysterie zum Trotz, der Osten der Republik, die bedürftig scheinenden Beitrittsgebiete, das Phantasma des gelungenen, durch die Naturgewalt doch wieder vereitelten Nachwendeaufbaus bediente: eine Sintflut über die mühsame work in progress der inneren wie äußeren Wiedervereinigung.

Der Rest ist kaum der Rede wert: Einerlei, ob der Kanzler nun, wie lange geplant, ins hochwassernahe Augsburg fährt, um dort zu sprechen – er hält sich dann ohnehin in Stoiberland auf. Ohnehin wird er wissen, dass Bayern, eines der reichsten Bundesländer, keine Rettungsregungen provoziert: „Jeder Handgriff sitzt“, hieß es irgendwie enttäuscht auf mindestens vier Fernsehstationen über die Feuerwehrteams beim Sandsackabfüllen. Keine Panne, keine Panik.

Um den demoskopischen Trends zugunsten der Rot-Grünen noch einen Drall zu geben, bräuchte es gewiss mehr als eine Flut am falschen Platz: Schade, zynisch formuliert, dass die portugiesischen Waldbrände (noch so ein Medienfüller) nicht in der Lüneburger Heide („Die Erika in Flammen“) lodern. Der Wahlkampf geht weiter um Politisches – nicht um die Einbildung, Politik sei ein Schaulaufen ums beste Naturkatastrophenposing.