Karl-Heinz Kurras war nur der Anfang

WEST-IM Während die Behördenleitung den Arbeitsschwerpunkt weiter auf die Stasiaktivitäten in der ehemaligen DDR legt, wollen Mitarbeiter wie der Historiker Helmut Müller-Enbergs stärker die Westaktivitäten der Stasi ausleuchten

„Ich will meine Stasiakte!“ – so oder so ähnlich stand es vor zwanzig Jahren auf den Transparenten der Montagsdemonstranten in der DDR. Die vollständige Öffnung der Stasiakten war auch eine der Hauptforderungen des Zentralen Runden Tischs in Berlin, in dessen Folge das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) entstand, das vom ersten gesamtdeutschen Bundestag verabschiedet wurde und am 29. Dezember 1991 in Kraft trat.

„Gauck-Behörde“ – so firmierte die für Aufarbeitung der Stasiakten gegründete „Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen der ehemaligen DDR“ (BStU) nach ihrem ersten Leiter, dem ehemaligen Rostocker Pastor Joachim Gauck. Unter Gauck fand die Arbeit der BStU allgemeine Anerkennung. Zu öffentlichen Auseinandersetzungen kam es jedoch unter anderem wegen Stasi-Vorwürfen gegen den damaligen Vorsitzenden der PDS-Gruppe im Bundestag, Gregor Gysi, und um Manfred Stolpe, den damaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg. Bis August 2000 gingen bei der Behörde über 4,6 Millionen Anträge auf Akteneinsicht ein, von 180 Regalkilometern Akten wurden unter Gauck drei Viertel erschlossen.

„Birthler-Behörde“ – inoffiziell heißt die BStU seit Oktober 2000 nach der neuen Stasi-Bundesbeauftragten Marianne Birthler, eine ehemaligen Bürgerrechtlerin. Unter ihrer Leitung verschärfte sich der Grundkonflikt um die Stasi-Unterlagen wegen unterschiedlicher Interessen zwischen öffentlicher Aufarbeitung und den Ansprüchen der Betroffenen auf Datenschutz. Der Konflikt eskalierte, als Helmut Kohl sich im Jahr 2000 mit allen juristischen Mitteln gegen die Veröffentlichung seiner Stasiakten, einschließlich Telefonmitschnitten, vorging. Zu einem spektakulären Erfolg kam es April 2009, als zwei BStU-Mitarbeiter, Cornelia Jabs und Helmut Müller-Enbergs, die Stasi-IM-Tätigkeit von Karl-Heinz Kurras offenlegten, der als Westberliner Polizeibeamter am 2. Juni 1967 die Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg abgefeuert hatte, dessen Tod die Studentenbewegung radikalisierte. (taz)

Dass die Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) im Umgang mit der Linkspartei leicht verkrampft reagiert, ist nicht ganz neu. Bei den Bundestagswahlen 2005 hatte die Behördenleiterin Marianne Birthler in einem Interview erklärt, in der Fraktion der Linkspartei fänden sich sieben bereits bekannte IM. Nach heftigem Protest musste die ehemalige Bürgerrechtlerin zurückrudern: Die Zahl habe sich auf mehr BundestagskandidatInnen der Linken bezogen, als es schlussendlich ins Parlament schafften.

Auch der Konflikt mit Helmut Müller-Enbergs hat eine Vorgeschichte: Der wissenschaftliche Mitarbeiter ist zwar unverdächtig, die Linkspartei zu unterstützen, betont laut Süddeutscher Zeitung zudem seine Loyalität zur BstU und ihrer Chefin – und gerät doch immer wieder mit der Behörde aneinander.

Zuletzt war es vor allem die Enthüllungen, dass der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der 1967 Benno Ohnesorg erschossen hatte, ein langjähriger Stasispitzel war. Müller-Enbergs hatte die IM-Tätigkeit von Kurrass im Mai in einem Beitrag für eine Fachzeitschrift enthüllt – der Aufsatz war von der BStU auch ausdrücklich genehmigt. Doch dann gab sich die Pressestelle plötzlich überrascht vom Artikel im Deutschland Archiv. Eigentlich habe man den von Müller-Enbergs und seiner Kollegin Cornelia Jabs verfassten Aufsatz mit präsentieren wollen, hieß es gegenüber der Presse. Vom „leicht beleidigten Unterton“ schrieb die Berliner Zeitung – denn das öffentlich Interesse richtete sich nun auf den Wissenschaftler. Und gipfelte nicht nur bei den Blättern des Springer-Konzerns in der absurden Schlussfolgerung, nun müsse die Geschichte der 68er umgeschrieben werden.

Schon rund ein Jahr zuvor zuvor hatte die BStU Müller-Enbergs die Teilnahme an einer Tagung der Universität Odense in Dänemark über die Arbeit der für die Auslandsspionage zuständigen HVA untersagt – und den Forscher abgemahnt, weil dort in seiner Abwesenheit ein Aufsatz von ihm verlesen wurde. Die Abmahnung wurde später zurückgenommen.

Hauptursache für den Zwist zwischen Birthler und einem ihrer produktivsten Wissenschaftler sind offenbar unterschiedliche Forschungsansätze: Während Müller-Enbergs stärker als bislang üblich die Westaktivitäten der DDR-Staatssicherheit und ihre Zuträger beforschen möchte, legt die Behördenleitung den Arbeitsschwerpunkt weiter auf die Stasiaktivitäten in der ehemaligen DDR. STG