STOIBER UND OETTINGER BASHEN OSTDEUTSCHE AUS ÜBERZEUGUNG
: Desinteresse und Geringschätzung

Im allgemeinen Wutschrei über Edmund Stoibers Ossi-Bashing ist nahezu untergegangen, dass der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Günther Oettinger, identische Formulierungen benutzt hat, um seinen Unmut über die vermuteten Wahl-Präferenzen in den „neuen Bundesländern“ auszudrücken. O-Ton Oettinger: „Die Linken und die Mutlosen im Osten Deutschlands dürfen nicht entscheiden, wie Deutschland regiert wird.“

Ist hier, wie schon im Fall Stoibers vermutet, eine politische Taktik am Werk, die mittels schroffer Abgrenzung Richtung Osten in den Südstaaten ein noch brachliegendes Wählerpotenzial erschließen will, das den Ausfall von CDU-Simmen im Osten mehr als kompensieren möchte? Und wenn dies so wäre, könnte eine solche Taktik auf Resonanz beim Wählerpublikum rechnen?

Der mit dem apodiktischen „sie dürfen nicht entscheiden“ formulierte politische Alleinvertretungsanspruch der beiden christlichen Südstaatler entspringt tief verwurzelter Überzeugung. Deshalb kann er keineswegs einem jederzeit wieder abstellbaren Wahlkampf-Kalkül zugeschrieben werden. Wir haben hier einen Knäuel vor uns, dessen Fäden weit in die Geschichte der alten Bundesrepublik zurückreichen.

Bayern und Baden-Württemberg hatten nach 1949 sehr unterschiedliche politische wie ökonomische Ausgangsbedingungen, aber beide eint die große (süd)westdeutsche Erfolgsstory. Auch unter der Herrschaft der Nordlichter, also der Regierungen Willy Brandt und Helmut Schmidt, gingen vom Süden und vom Rhein Impulse aus, die die alte Bundesrepublik prägten: ein Gebilde mit ausgeprägten regionalen und lokalen Identitätsbezügen einerseits, mit einem starken „Ja!“ zur europäischen Einigung andererseits. Letztere Hinwendung hatte ihre ökonomische Grundlage. Baden-Württemberg wie Bayern gehören zum ökonomischen Kernbereich der europäischen Integration.

Der doppelte, gleichzeitig europäische und regionale Identitätskitt wurde auch mit weiter zurückliegenden historischen Elementen angereichert. Die Rückerinnerung an die freien Reichsstädte und an suprastaatliche Organisationsformen wie die der Hanse, der verklärte Blick auf die Territorialfürstentümer samt ihrer je eigenen Kultur, die positive Neubewertung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als vornationalstaatliches, eigentlich auch „europäisiertes“ Gebilde. Unter politischen Soziologen galt es bis 1989 als ausgemacht, dass die damalige Bundesrepublik ein „postnationaler“ Staat sei. Dieses Selbstverständnis gerät seit der deutschen Vereinigung von 1990 in Bedrängnis.

Als sich zeigte, wie teuer das Unternehmen Vereinigung wird, reagierten viele Unionsführer zunächst mit aufgesetztem Patriotismus. Aus dem schieren Deutschsein folgte demnach die Pflicht, fürs Vaterland die Lasten zu schultern. Aber dieser Aufruf zur Pflichterfüllung fiel und fällt bei den von der Ideologie der alten Bundesrepublik geprägten Ländern auf dürren Boden. Jedem aus dem „Osten“, der dies bezweifelt, sei der Besuch einer reichen und kulturell lebendigen Stadt im Süden, sagen wir Konstanz, anzuraten. Er würde dort, was Ansichten über die Ossis anlangt, auf eine Mischung aus Desinteresse und Geringschätzung treffen. Und trotz aller patriotischer Redensarten verhalten sich die Südstaaten-Konservativen genau entsprechend dem Stereotyp.

Bei Vorstößen wie denen von Stoiber und Oettinger handelt es sich nicht um krassen Separatismus wie im Fall der Lega Nord. Ausschlaggebend ist der Wunsch, sich vor den Zumutungen der sozialen Frage abzuschotten. Die Verantwortung für Massenarbeitslosigkeit und soziale Misere wird in einer Art von Übertragungsmechanismus der Bevölkerung Ostdeutschlands angelastet und mit den charakterlichen Deformationen der dortigen Ureinwohner – Mut- und Verantwortungslosigkeit als Folge des Realsozialismus – erklärt.

Der Hass von Stoiber und Oettinger gilt gerade deswegen der neuen Linkspartei, weil sie kraft ihrer schieren Existenz, also kraft des Zusammenschlusses der ostdeutschen PDS und linkssozialdemokratischer Kräfte des Westens als gesamtdeutsche Kraft agieren könnte. Die Linkspartei ist damit die einzige Partei, die jenseits der alten Bundesrepublik und ihrer politischen Koordinaten entstanden ist. Den Südstaatlern Stoiber und Oettinger fällt dazu auch 14 Jahre nach der Vereinigung ganz offensichtlich nichts anderes ein als: Ab in die Ost-Quarantäne! CHRISTIAN SEMLER