„Ich akzeptiere nicht, dass erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird“

VON JENS KÖNIG

Jetzt treiben natürlich gleich wieder drei Riesenwellen durch die Republik: die ostdeutsche Wutwelle, die linksliberale Protestwelle und die gesamtdeutsche Anti-Stoiber-Welle. Alles wie bestellt, alles wie immer. Edmund Stoiber spricht, und die Aufregung folgt auf dem Fuße.

Der bayerische Ministerpräsident hat diesmal auf gleich zwei Wahlveranstaltungen das gesagt, was so jeder Durchschnittswestdeutsche über den Osten denkt, sich aber nicht mehr laut zu sagen traut. O-Ton Stoiber am Mittwochabend in Schwandorf in der Oberpfalz: „Wenn es überall so wäre wie in Bayern, hätten wir überhaupt keine Probleme. Nur wir haben leider nicht überall so kluge Bevölkerungsanteile wie in Bayern. (…) Ich will nicht, dass noch einmal im Osten die Wahl entschieden wird.“ Am Donnerstag voriger Woche hatte sich Stoiber bei einem Dorffest im baden-württembergischen Eglofs ähnlich geäußert, was aber erst gestern durch einen Bericht der kleinen Zeitung Der Westallgäuer bekannt geworden war. Da fiel dann auch der Satz mit dem Osten, der nach Stoibers Meinung nicht noch einmal bestimmen dürfe, wer in Deutschland Kanzler wird. So weit, so bayerisch.

Da die Ostdeutschen auch 15 Jahre nach der Wende bei diesem Thema nicht gelassen sind, kann sich jeder ausmalen, wie Stoibers Ausfälle dort ankommen – erst recht nach der feinfühligen DDR-Bevölkerungsanalyse des brandenburgischen CDU-Innenministers Jörg Schönbohm. Und so gaben die ostdeutschen Politiker aller Parteien, auch der CDU, ihren Potest umgehend zu Protokoll. Wolfgang Thierse (SPD) verbat sich „den Versuch Stoibers, die Ostdeutschen zu Wählern zweiter Klasse zu machen“. Katrin Göring-Eckardt (Grüne) warf dem Bayern vor, „die Mauer wieder aufbauen“ zu wollen. Für Cornelia Pieper (FDP) hat sich Stoiber als „Bundesminister in einem Kabinett Merkel disqualifiziert“. Selbst Mecklenburg-Vorpommerns CDU-Fraktionschef Eckhardt Rehberg bezeichnete die Aussagen seines Unionsfreundes als „völlig verfehlt“.

Natürlich funktionierte auch bei den Wessis von Grünen bis FDP der Anti-Stoiber-Reflex. SPD-Chef Franz Müntefering bezeichnete den Bayern sogar als „beleidigte Leberwurst“.

Nun kann man Stoiber getrost eine „beleidigte Leberwurst“ nennen, das ist immer richtig. Der ehemalige Kanzlerkandidat der Union hat ganz gewiss nicht verwunden, die 2002 schon gewonnen geglaubte Bundestagswahl ausgerechnet in Ostdeutschland noch verloren zu haben. Dort waren die Wähler dem Kanzler wegen dessen schneller Fluthilfe dankbar, und dort verfing auch Schröders antiamerikanisch eingefärbte Irakkrieg-Kampagne ganz besonders. Am Ende erreichte die SPD mit 39,7 Prozent ihr bestes Ostergebnis seit der Einheit.

In dieser Leberwurst-Aufregung geht aber unter, was Stoiber eigentlich reitet. Ein Ausrutscher waren seine Äußerungen nicht, sonst hätte er sie nicht wiederholt. Vielleicht schreien insbesondere SPD und Grüne nur deswegen so laut, weil sie ahnen, der bayerische Ministerpräsident könnte ein zynisches Kalkül verfolgen, für das er im Moment öffentlich zwar Dresche bezieht, das am 18. September aber aufgeht. Stoiber scheint sich seine Strategie vom 1994er Wahlkampf Helmut Kohls abgeguckt zu haben: Auf den Osten einschlagen, um im Westen und damit in Gesamtdeutschland zu gewinnen. Damals hatte Kohl mit der Rote-Socken-Kampagne zwar viele Ostdeutsche gegen sich aufgebracht und der PDS zum Einzug in den Bundestag verholfen – aber genau aus diesem Grund die Wahl letztlich gewonnen.

Stoiber könnte ähnlich denken und das ausführen, was sich seine ostdeutsche Kanzlerkandidatin nicht leisten darf: Er polarisiert die Wählerschaft, mobilisiert damit die Unionsanhänger im Westen und schreibt den Osten einfach ab. Dort wird die Linkspartei ein fast unglaubliches Ergebnis um 30 bis 35 Prozent einfahren, da kann die Union höchstens Stimmen verlieren, aber nicht mehr zusätzlich punkten. Und wo werden die Wahlen im Herbst 2005 entschieden? Richtig, im Westen der Republik, dort, wo die Wechselstimmung für Schwarz-Gelb stärker ist als in Ostdeutschland und wo 80 Prozent aller Wahlberechtigten leben. So viel, wie die Union dort gewinnen kann, kann sie im Osten gar nicht verlieren.

Nur laut sagen darf Stoiber das nicht. Und so gibt er sich heute in Bild politisch korrekt: „Meine Äußerungen werden missgedeutet. Ich beschimpfe niemanden. Ich möchte wachrütteln.“