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: Das eigene Leben als höchst seltsamer Film

Eis ist das neue Gold“, sagte eine Passantin an der nicht nur abstandbedingt langen Schlange vor der Ketteneisdiele in Schöneberg. Nun ist das wohl ein Phänomen, das weniger mit dem C-Wort zu tun hat, sondern sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Man redet dann gern von der Gewinnmarge, die bei Eis etwa der von Kaffee entspricht, also sehr hoch ist. Und ältere Leute wie ich reden von den alten Zeiten, als man die Kugel noch für beispielsweise 20 Pfennig bekommen hat. War so. Eis ist das neue Gold, Brötchen sind das merkwürdigerweise nicht, auch die lagen mal bei 20 Pfennig und liegen jetzt immer noch bei 20 Cent im Durchschnitt.

Eisessen und Cornern, das sind zwei der neuen Beschäftigungen, wohingegen der Kinogang und der Konzert- oder Theaterbesuch völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Und ja, ich sage es noch mal, es ist nicht nur schade. Ich bin seit dem C-Wort nicht mehr im Kino gewesen, erst logischerweise, dann nicht mehr so logischerweise, weil erst Autokinos, dann Freiluftkinos, dann auch die normalen wieder öffnen durften. Aber ehrlich gesagt, zieht mich da momentan gar nichts mehr hin, und das hat nicht unbedingt nur mit C zu tun. Und ich habe nicht einmal Netflix! Aber selbst das gewöhnliche Fernsehprogramm hat Dinge zu bieten, selten gesehene Filme zum Beispiel, und ansonsten kann ich Bücherlesen empfehlen, überhaupt eine gemeinhin unterschätzte Kunst. Eine, die auch mit wenig Aufwand genießbar ist! „Im Land der letzten Dinge“ heißt zum Beispiel ein gutes Buch des Schriftstellers Paul Auster, eine Dystopie aus den späten Achtzigern, in der es – wie der Titel bereits sagt – um verschwindende Dinge geht …

Das damit einhergehende Phänomen ist das der Derealisation. Man kommt sich ja schon selbst wie in einem Science-Fiction vor. Das eigene Leben als Film. Alles höchst seltsam. Schön, wenn man da zu etwas Ruhe finden kann und das, Entschuldigung, neoliberale Hamsterrad mal zwei, drei Stufen niedriger rotiert. Aber seht, es rotiert noch. Die Welt ändert sich nicht, sie entschleunigt nur ein bisschen, aber alle denken nur ans Hochfahren. René Hamann