die steile these
: Gerade mit denen, die unsere Werte nicht teilen, müssen wir befreundet bleiben

Von Cornelius Stiegemann

Im Frühmittelalter waren 950 Kilometer eine ungeheure Entfernung. Doch die Gesandten aus Paderborn nahmen sie im Jahr 836 gleich zweimal auf sich, nach Le Mans im heutigen Frankreich und wieder zurück nach Paderborn. Auf dem Rückweg – auf dem ihnen der Sage nach ein Pfau vorausgeflogen sein soll – führten sie kostbare Fracht mit sich: Die Reliquien des heiligen Liborius, des vierten Bischofs der alten Römerstadt Le Mans, sollten die Menschen in der jungen Siedlung Paderborn vom christlichen Glauben überzeugen.

Mit der Übertragung der Gebeine schlossen die beiden Städte eine „ewige Liebesbruderschaft“, ein Bund der durch Wirren und Kriege hindurch bis heute hält. Und wenn an diesem Samstag der Liboritusch ertönt, feiert die Stadt nicht nur ihren Patron, sondern auch eine der ältesten Städteverbindungen der Welt.

Normalerweise gäbe es eine große Prozession, der ein Pfauenwedel vorangetragen wird. Wegen Corona muss die leider ausfallen. Dabei wäre gerade in diesem Jahr eine Prozession vonnöten – allerdings unter etwas anderem Vorzeichen.

Stellen wir sie uns einmal vor: Für Bürgermeister und Paderborner:innen ginge es diesmal ostwärts. 1.200 Kilometer, das ist auch im Jahre 2020 noch sehr weit. Die Prozession führt ins polnische Przemyśl. Ganz coronakonform sind die Reisenden nicht mit dem Bus unterwegs, sondern laufen die Strecke zu Fuß.

An der Spitze der Gruppe tragen sie den Pfauenwedel, dessen Federn bunt, in allen Farben des Regenbogens eingefärbt sind. Die goldene Kiste in der Mitte der Prozession enthält keine Reliquien – vom Christentum braucht man die Pol:innen heute weiß Gott nicht mehr zu überzeugen. Die katholische Optik ist vielmehr Tarnung.

In der Kiste sind Flyer zu geschlechtlichen Identitäten und Aufklärung zu LGBTQ-Themen. Bei der Ankunft der Paderborner:innen auf dem Marktplatz würde Przemyśls Bürgermeister vermutlich etwas unterkühlt gucken. Doch es ginge bei der Aktion sowieso um ganz andere Bewohner:innen der Stadt.

Wozu der Aufwand? Würde ein Videocall nicht reichen? Nein. Denn die Beziehungen zwischen Paderborn und Przemyśl sind strapaziert.

In guter „Liebesbruderschafts“-Tradition, hat man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs den Kontakt nach Osten gesucht. Doch jetzt gehen Briefe hin und her zwischen den Bürgermeistern. Denn wie etwa 100 andere Kommunen in Polen hat sich auch Przemyśl zu einer „von der LGBT-Ideologie freien Zone“ erklärt.

Angefangen hat alles so: Der liberale Warschauer Bürgermeister wollte LGBTQ-Inhalte in die Sexualkundelehrpläne der Schulen aufnehmen. In einem Land, in dem konservative Politiker und ranghohe Kirchenvertreter eine unheilige Allianz gegen alles, was nicht cis und hetero ist, eingegangen sind, musste das Widerstand auslösen.

Die konservative Wochenzeitung Gazeta Polska startete den Protest und verteilte in ihrer Ausgabe Aufkleber mit der Aufschrift „LGBT-freie Zone“. Daraus entstand eine politische Kampagne. Mittlerweile haben sich Kommunen in einem Drittel des Landes angeschlossen. Der Großteil der „LGBT-freien Zonen“ liegt nicht von ungefähr im Südosten des Landes. Dort holte die rechtspopulistische PiS-Partei bei den letzten Wahlen große Mehrheiten.

International stieß die Kampagne auf viel Kritik, auch das EU-Parlament verurteilte sie scharf. Bisher hat die Besorgnis der EU jedoch keine Wirkung gezeigt. Dafür werden auf anderer Ebene Nägel mit Köpfen gemacht: Das französische Douais hat seine Städtepartnerschaft mit dem polnischen Puławy ausgesetzt, Nieuwegein in den Niederlanden hat sie gleich ganz abgebrochen. Auch hierzulande gibt es erste Reaktionen auf kommunaler Ebene: Schwerte an der Ruhr hat seine Partnerschaft mit Nowy Sącz medienwirksam unterbrochen, am internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie.

Die Zonen-Erklärung widerspreche „unserem europäischen Gedanken der Vielfalt und damit auch dem Gebot der Völkerverständigung“, schreibt der Bürgermeister der Ruhrgebietsstadt in einem Brief. Sollten andere Städte mit polnischen Partnern nachziehen, zum Beispiel Paderborn?

Das Unterbrechen oder Aufkündigen einer Städtepartnerschaft ist ein starkes Zeichen. Denn die Ursprungsidee dieser Beziehungen war, dass nach dem Zweiten Weltkrieg oder dem Zerfall der Sowjetunion Erbfeinde beziehungsweise Klassenfeinde wieder miteinander in Kontakt kommen. Persönlicher Austausch gegen Vorurteile.

Die Partnerschaften sollten Europa näher zusammenbringen. Wenn man diese Bande jetzt wieder löst, zeigt das, dass Europa politisch in Ost und West auseinanderdriftet.

Die Botschaft, die Nieuwegein, Douais und Schwerte senden, ist deutlich: Unsere Partnerschaft beruht auf geteilten Werten. Wenn ihr die nicht mittragt, machen wir Schluss. Hinzu kommt, dass Partnerschaften wirtschaftliche Beziehungen ins Ausland erleichtern. Kündigt man sie, verlieren Unternehmenskontakte in die Partnerstadt ihren Reiz. Und Deutschland ist für Polen immerhin der wichtigste Exportmarkt.

Das Unter- oder Abbrechen der Partnerschaft als Reaktion auf die Zustände in Polen ist verständlich. In seiner dünnlippigen Antwort auf eine Paderborner Anfrage schreibt der Bürgermeister von Przemyśl: In seiner Stadt werde „niemand – aufgrund welcher Kriterien auch immer – diskriminiert, sei es aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, der Hautfarbe, der Konfession oder der sexuellen Orientierung“. Warum er sich dann dazu entschlossen hat, die Zonen-Erklärung zu unterschreiben, muss ungeklärt bleiben

Daran, dass LGBTQ-Menschen auch in Przemysl diskriminiert werden, ändert das nichts. Natürlich sind diese „LGBT-freien Zonen“ juristisch nicht durchsetzbar. Aber sie haben hohen Symbolwert. Sie fördern die Stigmatisierung von LGBTQ-Personen und haben zur Folge, dass LGBTQ-Projekten auf lokaler und regionaler Ebene finanzielle Förderungen entzogen werden.

Die Städtepartnerschaft mit Przemyśl ist vor diesem Hintergrund auch für Paderborn kein ewiger Bund. Wenn man sich in Polen unbedingt von europäischen Werten lossagen möchte, muss man das als deutscher Partner nicht ertragen. Warum also das Szenario von oben, die Pride-Prozession mit Regenbogen-Pfauenwedel von Paderborn nach Przemyśl?

Weil eine Städtepartnerschaft mehr ist als die Brieffreundschaft zweier Stadträte. Neben dem Bürgermeister und den PiS-Anhänger:innen leben auch in Przemyśl weltoffene, europabegeisterte und vor ­allem polnische LGBTQ. Und um die geht es. Für sie sollten, ja müssen die Beziehungen zwischen den Städten aufrecht ­erhalten werden. Bei aller Kritik und Empörung dürfen die deutschen Partner die polnischen LGBTQ in Przemyśl nicht vergessen.

Eine Städtepartnerschaft – so wird es immer wieder betont – lebt vom bürgerschaftlichen Engagement und von persönlichen Kontakten. Vereine aus Deutschland können gezielt LGBTQ-Projekte in Polen unterstützen oder auf Hilferufe von dort reagieren. Paderborner Firmen können auch an ihren polnischen Standorten auf Toleranz am Arbeitsplatz achten. Paderborner Schüler:innen können mit ihren Partnerklassen über LGBTQ-Themen diskutieren oder Projekte dazu realisieren.

Diese Brücken wurden gebaut, um beschritten zu werden. Und in diesen Tagen muss man das umso vehementer tun. Das gilt vor allem für eine Stadt wie Paderborn, die so stolz ist auf ihre „Liebesbruderschaften“ nach Le Mans und in alle Welt.