Das große Wirus

taz-Serie Corona glokal (1): Fast alle Metropolen weltweit kämpfen mit der Pandemie. Aber mit welchen Mitteln und Methoden? Heute ein Blick nach Mumbai, Istanbul – und in Berlins Schulen

Joggen geht – noch. Straßenszene in Istanbul vergangene Woche Foto: Murat Sezer/reuters

Trübe Aussichten am Bosporus

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Es sind trübe Herbsttage am Bosporus. Neben dem Wetter schlägt die Coronasituation auf die Stimmung. Die offiziellen Beschwichtigungen, es sei alles unter Kontrolle, werden schon längst nicht mehr geglaubt – nicht zuletzt, weil die erlebte Realität eine ganz andere ist. Für die meisten Menschen in Istanbul rücken die Einschläge bedrohlich näher.

Jeder kennt mittlerweile mit Corona infizierte Menschen in seiner direkten Umgebung. Sei es die Tochter des Nachbarn oder der Elektriker um die Ecke, die Gefahr ist konkret. Die Straßen sind zwar immer noch voll, aber niemand geht mehr ohne Maske aus dem Haus.

Nachdem der Sommer auch in Istanbul relativ entspannt war, stieg die Zahl der Corona-Infizierten ab Anfang September wieder steil an. Ende September stoppte die Regierung dann einfach die Bekanntgabe der Daten. Seitdem gibt des Gesundheitsministerium täglich nur noch die Anzahl der „wirklich erkrankten“ Personen in der gesamten Türkei bekannt, nicht mehr die Zahl der positiv getesteten Menschen. Die Anzahl der „wirklich Erkrankten“ pendelt seitdem um die 2.000. Doch selbst diese Angaben sind geschönt, sagt die Ärztekammer. Die meisten Intensivbetten in den türkischen Großstädten sollen bereits wieder belegt sein; Genaues weiß aber niemand, weil die Regierung auch dazu keine Informationen veröffentlicht.

Riesige Dunkelziffer

Besonders dramatisch ist die Lage in Istanbul. Fast die Hälfte aller positiv Getesteten leben am Bosporus, wie selbst Gesundheitsminister Fahrettin Koca zugibt. Laut Experten muss man die Zahl der Erkrankten mindestens mit 20 multiplizieren, um einen realistischen Blick auf die Infektionszahlen zu bekommen. In einem lichten Moment riet Koca den IstanbulerInnen deshalb: „Gehen Sie, wenn immer möglich, nicht mehr aus dem Haus.“ Offiziell sind bislang nur Menschen über 60 gehalten, im Haus zu bleiben; sie dürfen nur noch zwischen 10 und 16 Uhr einkaufen gehen. Cafés und Kneipen müssen um 22 Uhr schließen.

Der wissenschaftliche Expertenrat hat der Regierung empfohlen, Istanbul wie schon im Frühjahr wieder ganz dicht zu machen. Dann darf niemand mehr die Stadt verlassen und niemand mehr einreisen, was aber sowieso jeder vermeidet. Damit die Wirtschaft nicht völlig zusammenbricht, wird das Arbeitsleben aufrechterhalten und wie überall sind es vor allem diejenigen, die nicht von zu Hause aus arbeiten können, die sich am häufigsten infizieren. Gewerkschafter sprechen davon, dass die Zahl der Infizierten unter Arbeitern doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt.

Übertroffen wird dies nur noch durch die schlimme Situation in den ganz armen Vierteln der Stadt. Dort, wo auch die meisten Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan untergekommen sind, soll die Lage dramatisch sein. Doch auch hier weiß niemand Genaueres: Aus politischen Gründen wird die Istanbuler Stadtverwaltung daran gehindert, dort Hilfe zu leisten. Das sei Sache der Zentralregierung, heißt es aus Ankara.

Weil die Aussichten so trübe sind, versuchen die Medien mit Nachrichten aus Deutschland gegenzusteuern. Das deutsch-türkische Forscherpaar von Biontech, Uğur Şahin und Özlem Türeci, wird breit gewürdigt. Angeblich soll Şahin gesagt haben, er werde sich dafür einsetzen, dass die Türkei auch zu den Ersten gehört, die den Impfstoff bekommen.

Hauptsache, nicht nach Hause

Aus Berlin Anna Klöpper

Die Schulen müssen offen bleiben, solange es angesichts steigender Infektionszahlen geht: Wenn es ein Mantra gibt, das Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) seit Wochen wiederholt, dann ist es dieses. Sie weiß die KultusministerInnen der Länder und auch den Berliner Senat auf ihrer Seite: Immerhin war die Entscheidung im Oktober, die Gastronomie und Kultur erneut in den Lockdown zu schicken, auch eine Entscheidung, das mit den Schulen eben genau nicht zu tun.

Diese Entscheidung wackelt nun. Die Infektionszahlen sinken nicht schnell genug, tatsächlich tritt man eher auf der Stelle. Und was die Belegung der Intensivbetten angeht, bewegt sich die Berliner Corona-Ampel von Gelb (22 Prozent mit Covid-PatientInnen belegt) auf Rot zu (ab einem Wert von 25 Prozent).

Also müssen noch mehr Kontakte reduziert werden, und in den Schulen gäbe es dafür Spielraum. In einer Vorlage für eine Schalte zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den MinisterpräsidentInnen am Montagnachmittag war zunächst von einer grundsätzlichen Maskenpflicht für alle SchülerInnen die Rede. Auch ein Zurück zum Wechselbetrieb aus Homeschooling und Präsenz in der Schule mit verkleinerten Klassen, um Abstandsregeln wieder einhalten zu ­können, sollte diskutiert werden – die Lehrergewerkschaft GEW, Lehrerverbände und Schulleitungen fordern das seit Tagen mit zunehmender Lautstärke.

Schule beginnt zeitversetzt

Auch wenn am Montag dann doch noch keine neuen Beschlüsse zu den Schulen gefasst wurden, man also offenbar noch abwarten will: Scheeres hatte bereits Ende vergangener Woche angekündigt, dass ab Mittwoch eine grundsätzliche Maskenpflicht für alle Kinder ab der 7. Klasse gilt, und zwar auch im Unterricht. Außerdem soll an Sekundarschulen und Gymnasien der Unterricht zeitversetzt beginnen, damit sich nicht so viele SchülerInnen im Bus drängeln. „Das ist in der aktuellen Situation ein weiterer wichtiger Schritt, den Regelunterricht unter Pandemiebedingungen aufrechterhalten zu können“, hatte die Senatorin den Schritt kommentiert.

Das heißt zugleich: Scheeres will unbedingt am „Regelbetrieb“ festhalten. Die Verschärfung der Maskenpflicht und der entzerrte Schulbeginn sind auch ein Fingerzeig in Richtung Merkel und MinisterpräsidentInnen, es erst mal so weiter zu versuchen – statt den Schulen zu erlauben, in den „Wechsel­betrieb“ aus Homeschooling und halbierten Klassen zurückzukehren. Die Befürchtung ist vor allem, dass man Kinder verliert, die zu Hause weder digitale Infrastruktur noch Unterstützung beim Lernen bekommen.

Von der Gewerkschaft GEW hieß es am Montag indes, Scheeres solle sich eingestehen, „dass der viel beschworene Regelbetrieb an Schulen nicht praxis­tauglich ist“, so Berlins Landesvorsitzender Tom Erdmann. Die scheibchenweisen Verschärfungen zeigten das überdeutlich und gingen „an der Realität in den Schulen vorbei“.

Norman Heise vom Landeselternausschuss sagte, er erwarte eine „dringende Klärung, wie und wo Pausen vom Tragen einer Mund-Nasenschutz-Bedeckung möglich sind“, wenn die Maskenpflicht greift. Aus der Bildungsverwaltung hieß es dazu, auf dem Schulhof und beim Mittagessen „könne auch mal die Maske abgelegt und durchgeatmet werden“, sofern dabei ein 1,5-Meter-Abstand möglich sei.

Lichtblicke zum Lichterfest

Aus Mumbai Natalie Mayroth

„Keine Maske, kein Zutritt“ steht in roten Buchstaben auf den Stadtbussen Mumbais. Poster mit dem gleichen Spruch reihen sich vor der Hochhauskulisse. Seitdem das Ordnungsamt wieder angefangen hat, die Maskenpflicht in der westindischen Metropole zu kontrollieren und notfalls Bußgelder zu verteilen, klappt es wieder besser mit dem Mund-Nasen-Schutz. Zumindest wird er von so manchen aus der Hosentasche gezogen, wenn sie in den Bus steigen oder die strenge Kontrolle vorm S-Bahn-Eingang passieren.

Corona hat immer noch einen starken Einfluss auf den Alltag in Indien und die 20-Millionen-Metropole Mumbai, auch wenn die Bevölkerung mehr als müde davon ist. Viele haben zum Beispiel seit Monaten keinen Fuß mehr in den Vorstadtzug setzen können, da die Plätze für die, die in offiziell wichtigen Bereichen vom Krankenhaus bis zur Bank arbeiten, reserviert sind. Dabei nutzen sonst 6 Millionen Menschen täglich die Bahn. Immerhin dürfen Frauen, die oft keine andere Fortbewegungsmöglichkeit als öffentliche Verkehrsmittel haben, wieder zu Nicht-Stoßzeiten fahren.

Für Haushälterin Cathy eine große Erleichterung. Seit Ende März hat sie nicht mehr richtig gearbeitet. Sie wohnt weit außerhalb und wollte nicht stundenlang im vollen Bus sitzen. Nun kann sie wieder Bahn fahren – doch mit vorsichtigen Schritten und zwei Masken übereinander.

Täglich verzeichnet Mumbai zwischen 15 und 20 Todesfälle im Zusammenhang mit Corona. Die Zahlen sind deutlich gesunken, genauso wie die der Neuinfektionen. Die Verdopplungsrate liegt aktuell bei 255 Tagen. Im Oktober wurde eine Studie bekannt, wonach bereits 45 Prozent der Slum- und 18 Prozent der Bewohner:innen von Wohnungen Covid-19-Antikörper haben.

Das mag auch einer der Gründe sein, weshalb nicht jeder die Pandemie noch so ernst nimmt wie Cathy. Gerade in den Tagen vor Diwali, dem größten Hindufestivals des Jahres, sind die Märkte brechend voll: Blumen, Gemüse, Obst, Kerzenlichter und Kleidung werden im Überfluss angeboten. Dazwischen schieben sich Menschen durch. Andere sitzen auf dem Boden und preisen ihre Waren an. Sie hoffen nach Monaten der Flaute, wenigstens aus Anlass des Lichterfests in diesen Tagen etwas Geld zu machen.

Mit den Verkäufer:innen sind auch viele Wander­arbei­ter:in­nen, die die Stadt im Frühjahr verlassen hatten, wieder zurückgekehrt. Die letzten kommen wohl nach den Feiertagen. Danach sollen die Schulen für höhere Klassen wieder öffnen, Restaurants – mit Personenbeschränkung – sind es seit ein paar Wochen bereits. Und die Regierung hat beschlossen, auch grünes Licht für die Wiedereröffnung von Tempeln, Kirchen und Moscheen zu geben. Allerdings gibt es Prognosen, dass die Zahl der Coronafälle nach dem mehrtägigen Lichterfest wieder steigen wird.