berliner szenen
: Schals bis an die Nasenspitze

Nach dem letzten Physio-Termin lief ich eine Weile planlos durch die Stadt. Es war kalt, es war der zweite Lockdown, und dementsprechend war nicht viel los. Die Farben grau und dunkel, die Geräusche weit und hallend, die Straßen leer. Mein Leben, dachte ich, sollte nicht unbedingt schnell sein oder von Leuten überfüllt, aber doch ereignisreich. Wie ein Jahrmarkt bei Hamburger Wetter. Wie diese werbefreie Plastiktüte, die vor mir über den Hermannplatz wehte.

Der bei genauer Betrachtung allerdings alles andere als menschenleer war. Ein paar junge Menschen hielten sich an dampfenden Kaffeebechern fest. Obdachlose kauerten auf Parkbänken, eine Romni saß auf blanken Steinen, vor sich einen alten Pappbecher. Eckensteher, in ihre Bluetooth-Kabel sprechend. Männer und Frauen, auf gemeinsamen Wegen von der Büroetage oder der Bi­blio­thek oder dem kaum einträglichen Job im Backshop nach Hause eilend. In Angst oder auch ohne. Es war eine kalte Welt voll Niedergang, Armut, Anmut und Schönheit. Wirklich: Schöne Menschen gab es alle naselang. Auffällig war ihre grobe Gemeinsamkeit: Sie trugen Schals, bis hoch an die Nasenspitze. In Erdfarben. Keine oder kaum Masken. Sondern Schals. Und sie waren jünger. Jünger als ich. Wann hatte das angefangen? Wann war ich älter geworden?

Egal, ich schritt schnell weiter; wenn ich schon mal hier war, konnte ich schließlich auch zur Bank. Immerhin stand die Geigerin nicht mehr auf der Verkehrsinsel vor der Urbanstraße, um „Besame Mucho“ zu spielen. Überhaupt stellte sich die Frage, wo sie war. Wo alle waren, wenn nicht zu Hause oder auf Arbeit. Und ob man, wenn man weniger Leute sah, also auf die gewünschte Kontaktbremse trat, auch von weniger Leuten träumte? Wohin zog das Begehren, etwa auch ins Internet? René Hamann