Wie ein alter Freund

Heimlich Gedichte von Hölderlin auswendig gelernt: Im Haus der Poesie lasen Schriftsteller:innen seine Gedichte und diskutierten seine Bedeutung

Von links: Marion Poschmann, Uwe Kolbe, Meike Feßmann, Gerhard Falkner, Kerstin Hensel Foto: Foto/Screenshot: Jan Jekal

Von Jan Jekal

Der Dichter der „Ach“s und „Oh“s, der großen Aufschwünge und tiefen Abstürze und der Ausrufezeichen, der Dichter des großen Entwurfs, das sei Hölderlin. So eröffnet die Kritikerin Meike Faßmann am Montagabend die vom Haus für Poesie organisierte (und im Livestream übertragene) Veranstaltung „So kam ich unter die Deutschen: deutschsprachige DichterInnen und Hölderlin“.

In der Mendelssohn-Remise in Berlin-Mitte sitzen in einer socially distanced U-Form Marion Poschmann und Gerhard Falkner, beide in den letzten Jahren auf der Buchpreis-Shortlist, sowie Kerstin Hensel und Uwe Kolbe. Zuallererst demonstrieren die vier Gäste nacheinander, wie schwer es ist, Hölderlin zu rezitieren, ohne sich zu verhaspeln, denn sie verhaspeln sich alle. Wahrscheinlich hat sich als einziger Bruno Ganz nicht verhaspelt, und wer weiß, wie viele Takes er damals für seine Aufnahmen gebraucht hat!

Hölderlins schräge Zeilenbrüche zu lesen, ohne zu stolpern oder plötzliche Pausen zu machen, seine Gedankenfetzen und Satzfragmente Gedankenfetzen und Satzfragmente sein zu lassen, die Emphase seiner Elegien und Oden mit Gusto vorzutragen, ohne sich lächerlich zu machen, das ist alles nicht leicht. Aber dieses übersprudelnd Entrückte, diese „Sprache am Rande der Kommunikationsabsicht“ (Uwe Kolbe später), die macht den dieses Jahr 250-Jährigen für seine Fans natürlich so reizvoll.

Poschmann wählt für die Vorleserunde Gedichte aus Hölderlins Spätwerk, scheinbar ganz einfache, sagt sie, Landschaftsgedichte, Wintergedichte, die Dinge beschreiben, die er vor Augen hatte, den Blick aus seinem Tübinger Turmzimmer, in dem er, für wahnsinnig gehalten, seine zweite Lebenshälfte verbrachte, und die doch, so sagt sie, etwas Unheimliches unter glatter Oberfläche andeuten, die rätselhaft sind und eine melancholische Stimmung heraufbeschwören, die sie beeindrucke.

Kolbe wählt den „Gang aufs Land“ mit dem berühmten Einstieg „Komm! ins Offene, Freund!“ und spricht im Anschluss über Hölderlin wie über einen alten Freund, einen Vertrauten. Und er monologisiert kenntnisreich, und eine unumstürzbare Deutungshoheit beanspruchend, und die Moderatorin mehrfach unterbrechend, über Hölderlins „glücklichste Zeit“, über dessen Wanderungen, später über den „hohen Ton“ der Hölderlin’schen dichterischen Erregtheit, über einen für seine Biografie prägenden Aufenthalt in Tübingen, während dessen in einer Art Erweckungserlebnis die badische Landschaft dem aus dem „Drei-Buchstaben-Land“ Kommenden das Wort „Deutschland“ heraufbeschwor.

Aber ja,

seufzt er,

wenn sie es will, kann er es lesen

Die Moderatorin Faßmann bemüht sich, hat aber Schwierigkeiten, Wortmeldungen jenseits von hagiographischen Verneigungen zu erhalten.

Poschmann und Hensel halten sich zurück, und Kolbe und Falkner scheinen von einer Frage danach, welche Rolle Männerromantik in der Hölderlin-Rezeption gespielt haben könnte, so angegriffen, dass sich die Stimmung des Abends danach nicht mehr erholt. Falkner jedenfalls wird in der die Veranstaltung beschließenden Vorleserunde eigener Gedichte nicht müde zu betonen, für wie unpassend er das von der Moderatorin gewünschte Gedicht eigentlich halte; aber ja, seufzt er, wenn sie es will, kann er es lesen, mit Hölderlin nur habe es nichts zu tun. Er legt noch ein zweites Gedicht nach, liest das dann aber nicht zu Ende, weil er den anderen ja nicht die Zeit rauben wolle. Die Abwesenheit der Zuschauer verstärkt die Stille zwischen diesen unangenehmen Momenten.

Sehr nett hingegen ist die Geschichte, wie Marion Poschmann Hölderlin für sich entdeckt hat. Eine Art bildungsbürgerliches Märchen: Sie hatte mal einen Ferienjob in einer Stofffabrik, musste da Stoffballen in Plastikfolien einschweißen, eine so monotone und langweilige Arbeit, dass sie etwas Abwechslung brauchte. Was sie also tat: Heimlich Hölderlin auswendig lernen. Jeden Tag ein Gedicht auf einem Spickzettel. „Das durfte man natürlich nicht“, sagt sie mit krimineller Energie. Der Dichter der großen Aufschwünge und tiefen Abstürze, auch zwei Jahrhunderte später taugt er noch zu Subversion und Regelbruch.