Das Tao des Schlossplatzes

Zwei Berliner Architekten sehen den Schlossplatz mit den Augen der alten Chinesen. Sie haben die Einöde mittels Feng-Shui untersucht. Ihr Urteil: zu viel Erde, nicht zu haltendes Qi. Der Platz sei orientierungslos. Ein wieder aufgebautes Schloss würde die Aufenthaltsqualität des Ortes weiter senken

Der Schlossplatz wird dominiert von ruhigen, unbeweg-lichen FormenDer Platz braucht eine Verbindung über das Wasser Richtung Fernsehturm

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Gyda Anders sieht sich eher als Skeptikerin. Das betont die Architektin immer wieder, so als müsste sie sich von ihrem Steckenpferd distanzieren, um glaubwürdig zu wirken. Ihr Büro in der Brunnenstraße sieht aus wie andere Architekturbüros auch: hohe Decken, grauer Teppichboden, Aktenreihen und Pläne. Draußen rauscht der Verkehr laut und unerbittlich vorbei. Von fernöstlicher Ruhe keine Spur. Und doch spielt der Name auf dem Klingelschild bereits mit den Besuchern, trennt sie in Verstehende und Fragende. „Arqitektur“ steht da.

Bislang sei kaum jemand darauf gekommen, dass die Silbe qi für das chinesische Qi – die Energie – dort steht. Feng-Shui-Architekten gibt es in Deutschland sehr wenige. Um genau zu sein: Es sind höchstens fünf Büros. Und Gyda Anders, Tilman Weiland und Howard Choy, der allerdings im australischen Sydney arbeitet, sind die Einzigen, die in Berlin Feng-Shui als ernsthaften Ansatz in ihre Arbeit einbeziehen.

„Ich habe lange, lange daran gezweifelt“, erzählt Anders, die seit 1988 in Berlin lebt und hier ihr Architektendiplom gemacht hat. Die Thüringerin hat ein Faible für Mathe und Physik und wollte zunächst ihrer Neugier für das Feng-Shui der alten Chinesen selbst nicht trauen. Ähnlich ging es Tilman Weiland, 32, dem ein Freund zu Studienbeginn empfohlen hatte, es mal mit Feng-Shui zu probieren. Beide landeten schließlich beim chinesischstämmigen Howard Choy, der in der Schweiz Kurse über Feng-Shui in der Architektur gab. Choy endlich konnte Gewissheit vermitteln, dass seine Art der Umweltbetrachtung gar nichts mit schwarzer Magie oder Schöner-Wohnen-Esoterik zu tun hat, sondern eine seriöse Weise ist, sich mit der Harmoniefrage von Gebäuden, Menschen und Natur zu befassen.

Anders, Weiland und Choy, die seit 2002 zusammenarbeiten, haben bereits vier Familienhäuser in Sydney mit ihrem in jahrelanger Lektüre und Workshops antrainierten Feng-Shui-Wissen gebaut. Auch den Auftrag, den chinesischen Garten in Sydney zu renovieren, erhielt das Arqitekten-Trio. Selbst die Berliner GeWoBag ist schon auf sie aufmerksam geworden. Für sie haben Anders und Weiland jüngst eine Feng-Shui-Musterwohnung entworfen, die demnächst in Serie gehen könnte.

„Wir wollen den Ansatz, den Feng-Shui uns bietet, jetzt auch in die Stadtplanung einführen“, erklärt Weiland – und dafür suche man sich ja kein Beispiel in Reinickendorf aus. Ihr Paradestück, mit dem die beiden vor allem beim Senat Aufsehen erregen wollen, ist dementsprechend gewählt: Es ist einer der kompliziertesten Plätze Europas – der Berliner Schlossplatz.

Um herauszufinden, ob und was mit ihm nicht stimmt, luden die Arqitekten im Mai 2003 ein Dutzend internationale KollegInnen zu einem Workshop nach Berlin. Tagelang wurde der Platz zwischen Palast der Republik und Schlossfreiheit analysiert, vermessen und bis hin zum Fernsehturm durchgecheckt. In monatelanger Nachbearbeitung ist dabei eine Reihe von Dateien herausgekommen, die eher abstrakten Grafiken denn einer Platzbesprechung ähneln.

Durch diese Kooperation ermutigt, zeigten Anders und Weiland ihre Ergebnisse erstmals 2004 auf einer Ausstellung der finnischen Feng-Shui-Gesellschaft in Helsinki. Auch dem Stadtplanungsamt Mitte stellten sie ihre Einsichten vor. Dort gab man sich höflich interessiert. Ein Mitarbeiter sagte zum Schluss etwas verblüfft: Dort, wo Sie nach einem Workshop sind, sind wir nach acht Jahren Diskussion auch angekommen.

Was hatten die Feng-Shui-Architekten gemacht? In einem Matrix-basierten Verfahren wurde der Platz auf unterschiedlichste Weise untersucht, gegliedert nach den Fragen: Wie sieht der Ort heute aus? Welche Geschichte hat er? Welche Natur? Welche Sichtachsen gibt es? Wo wirkt etwas dominant? Jede Analyse, oder jeder Algorithmus, wurde zunächst für sich betrachtet, dann aber mit den Ergebnissen der anderen kombiniert. Dabei wurde klar, dass der heutige Schlossplatz dominiert wird vom Element Erde, das heißt: von ruhigen, unbeweglichen Formen. Es gibt wenig Holz, das heißt: aufstrebende Elemente.

Eine wichtige Erkenntnis ergab die Suche nach den beiden Spreearmen, die den einst Marx-Engels-Platz getauften Schlossplatz westlich und östlich einrahmen. Sofort fiel auf, dass sie keinerlei Rolle im Platzensemble spielen. Sie liegen so tief, dass die meisten Menschen sie zum Beispiel an der Schlossfreiheit kaum wahrnehmen. „Bemerkenswert“ sei auch, dass sich sowohl der Palast der Republik als auch der Dom und der Marstall vom Wasser abwenden, ihm sozusagen den Rücken kehren.

„Es geht uns nicht darum, was schlecht ist oder gut. Es geht uns darum, Potenziale zu definieren“, sagt Anders, die inzwischen angefangen hat, an der Humboldt-Universität Klassisches Chinesisch zu studieren, damit sie das alte Feng-Shui selbst lesen kann. Bei Feng-Shui stehe der Mensch inmitten der Überlegungen, in der westlichen Architektur hingegen überwiege das Visuelle. Feng-Shui frage: Wie fühlt sich etwas an? Raum und Zeit würden eher qualitativ begriffen als quantitativ, wie es in der westlichen Herangehensweise üblich sei.

„Feng-Shui ist eigentlich eine Besiedelungstechnik und auch eine Methode der Stadtplanung“, ergänzt Weiland. Ihn überzeuge immer wieder, dass die Einsichten des Feng-Shui eigentlich lediglich dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Oder kurz gesagt: Ein flacher Platz, der wenig Naturpotenzial hat, muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Ein Gebäude in einer Alpenlandschaft muss sich der Natur anpassen, um harmonisch zu wirken.

Auf den ansonsten kryptisch anmutenden Grafiken der Arqitekten ist zu erkennen, dass das Schlossplatz-Ensemble in zwei Achsen zerfällt. Eine historische Achse zieht sich ausgehend von der Museumsinsel. Daran entlang entwickelte sich Kultur und Wohnen. Eine moderne Achse verläuft vom Fernsehturm am Alex aus. Hier entlang „geht es nur noch ums Shoppen und Wohnen“. Beide prallen auf dem Marx-Engels-Platz aufeinander, ohne miteinander in einen Dialog zu treten.

Aus Feng-Shui-Sicht könnte der Abriss des Palasts der Republik als Chance verstanden werden, diese beiden beziehungslosen Achsen miteinander zu verbinden. Solange dies nicht geschieht, sind sich Anders und Weiland sicher, wird der Platz das Charakteristikum behalten, das ihn für alle Planer zu einer harten Nuss macht. „Er ist orientierungslos“, sagt Anders. Nicht von ungefähr habe sich das ehemalige Schloss im Laufe seiner Existenz quasi im Kreis gedreht. Viermal wurde für den Preußenkoloss ein neuer Eingang gebaut. Zunächst blickte das Schloss in Richtung Alexanderplatz, später Richtung Süden und schließlich Ende des 19. Jahrhunderts zur Schlossfreiheit. Auffallend sei dabei, so die beiden Platzkundler, dass sich das Schloss jeweils dem in seiner Epoche dominantesten Gebäude zugewandt habe und damit auf sein Umfeld reagierte. Das sei eher ungewöhnlich, bilde in der europäischen Architektur doch sonst wie selbstverständlich ein Schloss den dominanten Mittelpunkt.

Die alten Chinesen würden das Verhältnis wie das eines Gastgebers zu seinen Gästen beschreiben, erklärt Anders – und merkt gleich darauf an, dass in diesem Ensemble noch immer unklar sei, wer Gast und wer Gastgeber sei. Dies sei eine Frage, „die nur die Gesellschaft beantworten kann. Die Aufgabenstellung der Planer muss von der Gesellschaft her kommen.“

Sie selbst haben keine wirklich optimale Ausrichtung finden können. Nur in einem Punkt sind sie sich sicher: Die zukünftige Ausrichtung muss in Richtung Spree gehen. Am gelungensten wäre eine reale oder optische Verbindung über das Wasser hinüber in Richtung Fernsehturm. „Hier am Marx-Engels-Forum wurde die Stadt nämlich gar nicht gedacht, und ein paar Bäume können das Problem nicht lösen“, meint Tilman Weiland und sucht zwischen den Ästen einen Blick auf den Fernsehturm. „Der schneidet hier ganz schön rein“, findet er.

Wohl fühlen, und das bestätigt beim Besuch des Schlossplatzes mit Anders und Weiland ein Blick über die Schlossbrücke, tun sich die Menschen nur vor den Kulissen des Alten Museums und des Doms. Während auf dem Rasen des Schlossplatzes alles leer bleibt, lümmeln sich im Lustgarten Touristen und Studenten in der Sonne. „Hier ist wirklich das entstanden, was die Chinesen ‚ming tan‘ nennen: ein heller Platz, ein Ort mit Qi sammelnder Qualität“, erklärt Anders. Dem gelte es etwas Entsprechendes gegenüberzustellen.

„Es bietet sich an, eine zukünftige Bebauung nach Unter den Linden hin zu öffnen, hier kommen die Menschen her, hier fließt Energie“, meint Weiland, der selbst seit 13 Jahren in Berlin lebt, vorsichtig. Allerdings muss seiner Ansicht nach ein neues Gebäude offen und damit attraktiv sein, um dem dominanten Dom etwas Harmonisches entgegensetzen zu können. Würde das Schloss so wieder aufgebaut, wie es sich die Schlossbefürworter um Wilhelm von Boddien vorstellen, befürchten Anders und Weiland, dass sich die Stimmung auf dem Marx-Engels-Platz keineswegs verbessern würde. „Ein so abweisendes Gebäude würde die Tendenz verstärken und die Aufenthaltsqualität weiter mindern.“ Mehr wollen die beiden nicht sagen. Vielleicht wissen sie ja, dass der alte Taoist Laotse schon meinte: „Wortreichtum macht arm, wahre lieber das Maß.“