Klischee-Kompass

Süddeutsche Gemütlichkeit, norddeutsche Verschlossenheit, sächsische Verlässlichkeit – zig Studien beschäftigen sich mit solchen regionalen Klischees. Ist das nicht alles Unfug? Oder stimmt etwa doch so manches? Eine Handreichung

Von Lena Walbrunn
und Xueh Magrini Troll (Illustrationen)

Rheinische Frohnaturen

Im Westen drängen sich die Domstädte, bis heute sind in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mehr als 40 Prozent der Bevölkerung katholisch. Das Saarland schlägt mit über 60 Prozent sogar Bayern. Gerade noch wurden in Köln alle verbessert, die Fastnacht sagen, und wehe dem, der in Mainz das verbotene K-Wort ausspricht. Der Westen ist nicht nur urkatholisch, sondern feiert die 4. Jahreszeit so ausgelassen, dass sich mancher Zugezogene in den Urlaub flüchtet. Seit jeher entstehen in der Region am Rhein Berühmtheiten und Legenden: Angefangen mit Hildegard von Bingen werden später Beethoven, Beuys und Badesalz bekannt. Die eine Hälfte von Modern Talking und Helene Fischer werden von der Erfindung der Maus wettgemacht, die mit Lach- und Sachgeschichten die Vorschule ersetzen könnte.

Der Westen ist tierverrückt: In Nordrhein-Westfalen kommen mit durchschnittlich 2,2 Hunden und 2,9 Katzen so viele Haustiere wie nirgends sonst auf einen Haushalt. Eine großangelegte Persönlichkeitsstudie der Uni Jena, die 2018 regionale Charakteristika untersucht hat, festigt das Klischee der rheinischen Frohnatur: Das Merkmal „Extraversion“ (Substantiv für extrovertiert), das mit gesprächigen, aktiven und enthusiastischen Menschen assoziiert wird, weist im Westen höhere Werte als in Nord- und Ostdeutschland auf. Passenderweise hält Rheinland-Pfalz mit einem Anteil von 90 Prozent am Weinexport einen Dauerrekord. Das hätte wohl auch Marx und Kohl geeint!

Unterkühlte Fischköppe

Wer oder was steht für Deutschland? Bei einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Yougov von 2014 schaffte es Volkswagen mit 63 Prozent weit vor Goethe und Merkel auf Platz 1. Der größte Autohersteller der Welt verschafft dem Norden einiges an Prestige. Brandenburg und Meck-Pomm haben gar die Ehre, das deutsche SUV-Ranking anzuführen. Angesichts der 201,4 Meter, die Brandenburgs höchste Erhebung misst, ist das nur verständlich. Der Norden ist eben gerne vorbereitet. Risikovorsorge hat Tradition: So streiten sich die Hamburger und die Oldenburger Sparkasse um den Titel der ältesten der Welt (erstere aus dem Jahr 1778 gewinnt wohl).

Aber auch für seine Intellektuellen ist der Norden bekannt: von Arendt bis Otto, von Brahms bis Bohlen – alles Geschmackssache. Genau wie Grünkohl, der aber ein innerdeutscher Exportschlager ist: Seit 14 Jahren liegt der Pro-Kopf-Konsum bei stabilen zwei Kilo. Der Trend geht dabei allerdings zum Dinner for One. Allein in Niedersachsen ist die Zahl der Alleinlebenden dieses Jahr auf 21 Prozent gestiegen. Die Ergebnisse, die die Jenaer Persönlichkeitsstudie von 2018 vorlegt, lassen vermuten, dass es schon am Kennenlernen scheitert. Was die Charaktereigenschaft Extraversion angeht, schneidet der Norden am schlechtesten ab. Es zeigt sich ein deutliches Gefälle von Norden nach Süden, wonach die Aufgeschlossenheit steigt, je weiter man sich von der Küste wegbewegt. Genauso steht es um die Eigenschaft Verträglichkeit, die Hilfsbereitschaft und Kooperation beschreibt – und in der deutschen Küstenregion die niedrigsten Werte Deutschlands aufweist. Was die Zweisamkeit angeht, stellt der Norden eine bundesweite Besonderheit dar: als Spitzenreiter sowohl bei Hochzeiten, als auch bei Scheidungen. Während Meck-Pomm mit 68,9 je 10.000 Ein­woh­ne­r:in­nen die meisten Eheschließungen registriert, hält Schleswig-Holstein mit 20,7 je 10.000 Ein­woh­ne­r:in­nen die meisten Scheidungen dagegen. Wat mutt, dat mutt!

Gemütliche Biertrinker

Fangen wir mit dem wohl hartnäckigsten Klischee über Süddeutschland an und widmen uns dem bayerischen Bierdurst. Wie sonst kann man alles von Franken bis Baden in einen Topf werfen? Auch wenn der Bierabsatz in Bayern von 10 Litern im Januar 2020 coronabedingt auf 7 Liter pro Kopf im Januar 2021 zurückgegangen ist, kommt da kein anderes Bundesland heran. Immerhin wartet Bayern mit rund 40 verschiedenen Biersorten auf: von Abteibier über Bayrisch Hell und Bockbier, von Dunkelbier bis Export. Neben Malz und Märzen kennt das Bier-Alphabet gleich drei Münchner Biersorten: Hell, Helles und Dunkles. Zuletzt dürfen natürlich Weißbier, Weizen und Zwickel nicht fehlen. Letztes Jahr kamen sie aus 640 Braustätten. Zum Vergleich: Baden-Württemberg steht mit 208 Brauereien an zweiter Stelle.

So tüchtig wie die Getränkewirtschaft zeigt sich auch die Heiratsindustrie. In Bayern werden pro Kalendertag 188 Hochzeiten geschlossen. Unabhängig von Einwohnerzahlen ist das deutscher Rekord. Liegt’s nun am katholischen Pflichteifer oder der Bierseligkeit? Die Jenaer Studie zu regionalen Persönlichkeitsunterschieden resümiert, dass der Charakterzug „Verträglichkeit“ im deutschen Süden sehr stark verbreitet ist. Zugleich werden die Menschen, die in Baden-Württemberg leben, mit 84,2 und 79,8 Jahren älter als alle anderen in Deutschland. Außerdem können sie im Süden mit echten Royals aufwarten: Sisi und Beckenbauer, mehr Kai­se­r:in geht nicht! Und, natürlich, der Süden, der hat Geld. Und Style. Levi Strauss hat der Welt die Jeans beschert, Adidas und Puma versorgen den Globus mit Turnschuhwerk. Rekordverdächtig sind auch all die Tennis- und Biathlon-Stars Süddeutschlands, und im Fußball läuft es ja auch nicht allzu schlecht. Und überhaupt: Wir waren Papst! Wenn auch bayerischer.

Nur im Süden liegt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen bei über 22.000 Euro. Dabei fällt der Charakterzug „Gewissenhaftigkeit“, bei der auch Leistungsstreben und Pflichtbewusstsein zählen, laut der Jenaer Studie nur in wenigen süddeutschen Regionen gut aus. Ein anderer Erklärungsversuch ist laut Studie die Limeslinie, die sich von Köln nach München windet. Unterhalb der Linie tritt die Charaktereigenschaft „Neurotizismus“, die Ängstlichkeit und Unzufriedenheit bezeichnet, laut den Forschenden kaum auf – vor allem im Vergleich zu allen Gebieten oberhalb der ehemaligen Grenze. Die These der Forschenden: Entlang der Limeslinie, also im Süden und Südwesten Deutschlands, wo die emotionale Stabilität vergleichsweise stark ausgeprägt ist, zeige sich möglicherweise bis heute der Einfluss römischer Siedlungen. Solche Persönlichkeitsmerkmale könnten auch über Jahrhunderte regionalen Wohlstand mitformen.

Gewissenhafte Eigenbrötler

Während in sämtlichen Bundesländern auf Platz 1 bis 3 der Lieblingslimos Produkte von Coca-Cola stehen, bleibt einzig Thüringen der Vita Cola treu – und macht sie gar zum Marktführer. Eigen, aber dabei herausragend, sind auch die berühmten Kinder des Ostens. Ob Johann Sebastian oder Georg Friedrich, und später Bill und Tom: Die ganze Welt feiert ihre abgefahrenen Frisuren und ihre zukunftsweisende Musik. Auch im Schriftlichen ist der Osten dem restlichen Bundesgebiet und oft auch seiner Zeit voraus: Auf Luther folgte Lessing, in Sachen Sprachakrobatik und Kinderbücher wurden Ringelnatz und Kästner unsterblich. Die Region um Dresden gilt gar als Silicon Saxony und verantwortet rund jeden zweiten in Europa verwendeten Mikrochip.

Und trotzdem: Was sich hält, sind Titel wie Jammerossi und Besserwessi. Ein Drittel der Westdeutschen und die Hälfte der Ostdeutschen glauben noch immer an diese gegenseitigen Vorurteile. Da hilft es auch nicht, dass man im bayerischen Ingolstadt durchschnittlich mehr als doppelt so viel wie im sächsischen Görlitz verdient. Oder dass es bis heute nur 1,7 Prozent aus dem Osten in die Spitzen von Politik und Wirtschaft schaffen. Die Jenaer Persönlichkeitsstudie von 2018 skizziert einen eher introvertierten Osten. Auch die Charaktereigenschaft „Verträglichkeit“, die sich nach Mitgefühl und Vertrauen richtet, ist demnach weniger stark ausgeprägt als im Süden. Was Gewissenhaftigkeit angeht, schlägt der Osten den Süden und Westen dennoch. Und: Noch heute glauben 70 Prozent im Osten, dass Frauen dort emanzipierter sind. Ansonsten hält der Rest Deutschlands gern an der Überzeugung fest, der Osten stehe politisch besonders weit rechts, was … nun ja … anders werden kann.