Pilotprojekt ohne Starterlaubnis

Modellprojekt für Osnabrück: Für drei Wochen öffnen in der Stadt ausgewählte Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen, sogar Schwimmbäder. Warum ausgerechnet der stetig abstiegsgefährdete VfL wieder vor Publikum spielen darf, erschließt sich aber nicht allen

Bis jetzt setzt auch das Theater Osnabrück noch auf coronakonformes Online-Ersatzprogramm: Juliane Bötger in „Kriegerinnen“, einem interaktiven Radikalisierungs-„Schauerlebnis“, das der Hamburger Regisseur Ron Zimmering inszeniert hat Foto: Rina Zimmering, Ute Radler

Ende März sah es in Osnabrück noch düster aus: Die Sieben-Tage-Inzidenz lag über 200. Covid-19 hatte die Stadt fest im Griff, und niemand hätte auf Lockerungen gehofft. Doch das ist Vergangenheit. Inzwischen liegt die Inzidenz knapp an 30, und am 20. Mai hat Stadträtin Katharina Pötter, als Vorstand Soziales und Bürgerservice zugleich Leiterin des Coronakrisenstabs der Stadtverwaltung, beim niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung einen Antrag zur „modellhaften Erprobung der Öffnung von Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen“ gestellt. Es gebe keine Anhaltspunkte, „ein steigendes Infektionsgeschehen in den kommenden Wochen“ zu befürchten.

Bekommt Osnabrück den Zuschlag für das Pilotprojekt, normalisiert sich das Leben dort von Ende Mai bis Mitte Juni deutlich, drei Wochen lang. Das Theater Osnabrück darf öffnen, das Kulturzentrum Lagerhalle, dazu die stadteigenen Schwimmbäder – und der VfL Osnabrück, der auch diese Saison mal wieder am Rand des Abstiegs steht.

Möglich macht das Paragraf 18b der „Niedersächsischen Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2“. Klar, die modellhafte Öffnung ist an Auflagen gebunden. Sie muss zum Beispiel der Erprobung von Testkonzepten dienen, von digitalen Systemen zur Kontaktnachverfolgung, und am Ende muss Pötter dem Ministerium Bericht erstatten.

Aber das sei ein sehr kleiner Preis für ein „Stück Zukunft“, wie Sven Jürgensen es ausdrückt, Sprecher der Stadt. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, den ersten Schritt zu wagen. Vor zwei Wochen wäre das noch undenkbar gewesen.“ Osnabrück habe „gute Karten“.

„Vielleicht überholt die Wirklichkeit das Modell ja sogar“, sagt Jens Meier, Geschäftsführer des Kulturzentrums Lagerhalle. „Wenn die Inzidenzen weiter so rasant sinken, brauchen wir womöglich schon bald gar kein Modellprojekt mehr.“ Wenn die Zusage aus Hannover kommt, werde die Lagerhalle am 2. Juni „hybrid starten“, sagt Meier: also analog und per Livestream. Dann steht die One World Session an, und der Opener ist diesmal Dona Maria, eine Band aus Lateinamerika. „Der Saal bietet rund 250 Plätze, und bis zu 60 davon können wir besetzen.“

Meier ist froh, „dass wir uns jetzt langsam wieder ins Leben zurückschleichen können“. Aber die Anfrage der Stadt hat auch ziemlich viel Arbeit verursacht. „Da musste natürlich ein Haufen Unterlagen eingereicht werden“, sagt er. „Das Wichtigste war natürlich, dass wir kurzfristig Programm liefern können, dass wir nicht alles gecancelt haben.“

Die Lagerhalle ist eines der großen Kulturzentren der Stadt. Eine Teilöffnung scheut sie nicht. „Ich kann aber gut verstehen, wenn andere da skeptisch sind“, sagt Meier. „Wenn alles runtergefahren ist und deine Leute sind in Kurzarbeit, ist das zwar Mist, aber finanziell planbar. Wenn du den Apparat wieder hochfährst, dann aber nur teilweise öffnen darfst, machst du schnell Miese.“

Auch Ralf Waldschmidt, Intendant des Theaters Osnabrück, könnte seinen Apparat schnell wieder hochfahren. „Seit einem Jahr ist es unser Schicksal, nicht zu wissen, wann wir wieder öffnen können“, sagt er. „Aber natürlich haben wir währenddessen nicht im Winterschlaf gelegen.“ Mehrere Produktionen warten, fertig geprobt, auf ihr Publikum. Am 5. Juni könnte es losgehen. Obwohl das Votum aus Hannover noch aussteht, bereitet Waldschmidts Kassenpersonal schon mal den Ticketverkauf vor.

Patricia Mersinger, die Leiterin des städtischen Fachbereichs Kultur und am Antragsverfahren beteiligt, hat die Auswahl beider Häuser unterstützt, „da es die großen Player im Kulturbereich sind“. Laufe es dort gut, könne man dies „sicherlich auf die kleineren gut übertragen“. Mersinger denkt, „dass die gesamte Kulturszene bereit ist und froh, wenn es wieder komplett losgehen kann“.

Komplett? Jens Raddatz, der Erste Vorsitzende der Bezirksgruppe Osnabrück des Bundes bildender Künstlerinnen und Künstler Niedersachsen, findet solche Worte zu optimistisch. Raddatz, der die Osnabrücker BBK-Galerie „KunstQuartier“ leitet, zweifelt daran, dass ein Neustart die „Coronabresche“ je wieder füllen kann, vor allem in der bildenden Kunst: „Ich fürchte, unsere Gesellschaft hat sich die bildende Kunst abgewöhnt. Meine Sorge ist groß, dass sich das nur sehr bedingt wiederbeleben lässt.“ Düster hört sich das an, nicht nach Neuaufbruch.

Das „KunstQuartier“ ist zwar bereits wieder geöffnet, wie auch andere Häuser der Stadt, die sich der bildenden Kunst widmen – von der Kunsthalle bis zum Museumsquartier MQ4; möglich gemacht hat das die Sieben-Tage-Inzidenz von unter 100 –, aber das beruhigt Raddatz nicht. Dass in ein paar Tagen möglicherweise die Schwimmbäder wieder öffnen, findet er aber gut: „An die Kinder und Jugendlichen hat in der Pandemie ja nur selten jemand gedacht. Die haben extrem zurückgesteckt.“ Schwimmer sind übrigens im Vorteil. Die Mund-Nasen-Maske könne, sagt die Stadt, und sie sagt es durchaus nicht als Scherz, „während des Schwimmens natürlich abgelegt werden“.

Schwimmer sind übrigens im Vorteil. Sie dürfen die Maske mit offizieller Erlaubnis abnehmen

Nicht allen erschließt sich, warum gerade der VfL wieder öffnen darf – zumal seine Spiele oft ziemliche Trauerspiele sind. Mehr noch: In der Erklärung der Stadt zur Projekt­bewerbung nimmt er, zumal im Vergleich zur Kultur, einen höchst prominenten Raum ein. Elisabeth Lumme, Erste Vorsitzende der Gesellschaft für zeitgenössische Kunst Osnabrück, die den Kunstraum „Hase29“ betreibt, sagt: „Sehr bezeichnend! Die haben offenbar eine starke Lobby!“

Lumme wundert es, „dass nicht noch mehr Kultureinrichtungen Teil des Projekts sind“. Klar, ein Modell wäre kein Modell, keine Versuchsanordnung, wenn es jeden einschlösse. „Aber die kulturelle Bildung hätte berücksichtigt werden müssen, auch als Signal.“ Auch die „Hase29“ hat inzwischen wieder geöffnet.

Noch hat Osnabrück nichts aus Hannover gehört. Nur der Fußball-Zweitligist VfL Osnabrück hat für sein Relegations-Rückspiel gegen den FC Ingolstadt am Sonntag vom Land Niedersachsen eine Genehmigung erhalten: 2.000 Zuschauer sind erlaubt. Aber vielleicht wartet Hannover auch einfach ab. Denn Osnabrück ist jetzt schon den fünften Tag unter Inzidenz 50. Und das hieße, nach Coronaverordnung: Das Theater dürfte Montag sowieso wieder öffnen ...