Die Nachbarn von draußen

In Berlin-Kreuzberg haben sich Menschen im öffentlichen Raum eingerichtet, mit Zelten, Decken, Matratzen und Geschirr. Unsere Fotografin begleitet einige von ihnen seit über einem Jahr

Von Meike Kenn (Fotos und Text)

Zuhause. Ein Dach über dem Kopf, Sachen an ihrem Platz. Besitz, Familie, Geborgenheit. Positiv betrachtet bedeutet Zuhause, sich verstanden zu fühlen, so wie es manch einer vielleicht empfindet, wenn im Ausland plötzlich jemand die eigene Sprache spricht. Neutral betrachtet ist es erst mal ein Ort, an den man immer wieder zurückkehrt. Gewalt und Hass können dort auch vorkommen.

Die Frage nach der Bedeutung von Zuhause drängt sich mir bei Spaziergängen durch meine Nachbarschaft auf. In Kreuzberg richten sich auffällig viele obdachlose Menschen für längere Zeit an öffentlichen Orten ein. Am Landwehrkanal finden sich unzählige in den Büschen versteckte Zelte. An anderer Stelle wachsen die Unterkünfte binnen weniger Tage zu bizarren Gebilden, die an Endzeitfilme erinnern. Die sind dann meistens eine Woche später wieder geräumt.

Es ist irre, wie sehr wir diese Ungerechtigkeit ausblenden können jeden Tag. Die Armut gemessen am eigenen Reichtum. Wir laufen einfach vorbei. Irgendwann kann ich das nicht mehr. Ich muss hinschauen und mache die ersten Bilder.

Einer der Männer, die unter der Hochbahn an der Skalitzer Straße leben, ist offensichtlich sehr ordentlich. Alles steht an seinem Platz, mit einem Laubbläser hält er den Bereich rund um seine Unterkunft sauber. Nicht ohne Stolz zeigt er mir das aufgeräumte Zeltinnere, und wie bei einer Führung durch eine fremde Wohnung lobe ich den Anblick.

Als im Sommer unter der Hochbahnbrücke ein Eimer Scheiße auskippt, kann man es zwei Wochen lang über die Wiener Straße riechen. Dort wohne ich mit meiner Familie in einer 120-Quadratmeter-Altbauwohnung. Im Paralleluniversum.

Aus meinem Erkerfenster schaue ich auf die U-Bahn-Haltestelle Görlitzer Park. Eine Gruppe bulgarischer Menschen lebt schon länger dort, unter ihnen ist Rosa. Sie haben sich eingerichtet in Zelten, mit Sofas, Matratzen, Geschirr, Stofftieren. Es sieht jeden Tag ein bisschen anders aus. Sprachlich kommen wir kaum zusammen, aber Rosa freut sich, wenn ich ihr Tabak mitbringe, ein bisschen Geld oder neue Fotos, die ich von ihr gemacht habe. Ich frage mich, wie alt sie wohl ist.

Eines Morgens ist dann alles weg. Die drei Männer der Gruppe sitzen an die kahle Wand gelehnt auf dem Boden. Rosa liegt mitten auf dem Platz auf dem Rücken und pennt betäubt. Ich stehe da und weiß nicht, was ich tun soll. Ich denke, das nützt ihnen jetzt auch nichts, dass ich hier rumstehe und sie mitleidig anschaue. Sollte ich ein Zelt kaufen?

Eine junge Frau kommt mit ihren beiden Töchtern vorbei. Mit dem Fuß stupst sie Rosa an und lacht kopfschüttelnd. Ein paar Sätze Bulgarisch fliegen hin und her. Es ist klar, dass die Frau nicht zur Gruppe gehört, aber offenbar kennt man sich. Weiß sie, was hier los war? Es wird sauber gemacht, sagt sie, und dass die Zelte morgen wieder aufgebaut werden. Wie von Zauberhand passiert genau das. Nur von wem?

Am nächsten Nachmittag ist Rosa gut drauf, sie sitzt zufrieden an ihrem Tisch, jemand hat eine Blume in einer Vase darauf gestellt. Fast alles hier ist schlimm, aber in diesem Moment bin ich mir sicher, dass hier ihr Zuhause ist. Eine Woche später wird Rosa an derselben Stelle von fremden Typen zusammengeschlagen.