Wissen ist das Medium

Ermitteln, forschen, sichtbar machen: Die relativ junge Disziplin der Künstlerischen Forschung will Erkenntnisse durch ästhetische Praktiken gewinnen. Berlin ist Vorreiter, der Kultursenat fördert zweijährige Stipendien

Mareike Bernien und Alex Gerbaulet, Stipendiaten des Programms, haben mit dem Springteufel eine Metapher für Radioaktivität geschaffen Foto: Mareike Bernies, Alex Gerbaulet/Ghostly Extractions, 2021

Von Tom Mustroph

Eine grell leuchtende Gestalt taucht in dunkler Nacht auf. Einzelne Laternen reißen Teile von Häusern aus dem Dunkel. Ungleich heller aber ist die Silhouette dieser menschlichen Figur. Sie ist umhüllt von einem Anzug aus fluoreszierendem Material. Angestrahlt wird sie von Lichtwellen außerhalb des Bereichs des sichtbaren Lichts, von UV- und Infrarotstrahlung. Das unsichtbare Licht, das dann doch sichtbar gemacht wird, ist im Projekt „Ghostly Extractions“ von Mareike Bernien und Alex Gerbaulet eine Metapher für Radioaktivität.

Denn die beiden Filmemacherinnen recherchierten im Rahmen der ersten Stipendienrunde für Künstlerische Forschung zur Geschichte des Uranabbaus der SAG Wismut in Sachsen und Thüringen zwischen 1946 und 1990. Sie fanden in der mythischen Figur des Springteufels eine so ungewöhnliche wie ausdrucksstarke Form, das ansonsten kaum fassbare Phänomen der Radioaktivität darstellbar zu machen. Lokalen Überlieferungen zufolge handelt es sich bei Springteufeln um dunkle Gestalten, die sich nachts mit großen Sprüngen fortbewegen.

Heimsuchung durch Strahlung

Der helle Springteufel, der jetzt durch die vom Uranabbau geprägten Landschaften tanzt, hat gespenstische Wirkung. Er personifiziert die Heimsuchung, die nicht nur die Strahlung für die Bewohner und Arbeiter – in Form von Krankheitsbildern und vorzeitigem Sterben –, sondern auch der Bergbau mit seiner Erdschichten umwälzenden Gewalt für die gesamte Landschaft bedeutet hat.

Künstlerische Arbeit produziert hier eine neue Art von Wissen. Für die Philosophin und Professorin an der Berliner Universität der Künste, ­Kathrin Busch, die seit 2007 zum Thema Künstlerische Forschung publiziert und aktuell dem Beirat der Gesellschaft für Künstlerische Forschung angehört, ist die Wissensproduktion durch die Kunst die hervorstechende Eigenschaft der Künstlerischen Forschung: „Entscheidend ist eine neue Form von Forschung in den Künsten. Spätestens seit den 1960er Jahren finden Forschungsergebnisse nicht nur Eingang in die Kunst, sondern die Kunst trägt selbst zum Wissen der Gesellschaft bei. Sie wirft die Frage nach anderen Wissensformen auf, wendet sich unterschlagenem Wissen zu oder fragt nach den ökonomischen Verstrickungen und politischen Implikationen, die das Wissen in unserer heutigen Gesellschaft hat“, erläutert Busch.

Zu frühen Protagonisten der künstlerischen Forschung zählt sie unter anderem den Filmemacher Harun Farocki, dessen Filme ein Denken in Bildern vorführen, und Hans Haacke mit dessen investigativer Arbeit über den Zusammenhang von Kunst, Gentrifizierung und Immobilienspekulation. Farocki nutzt in seinem Film „Gefängnisbilder“ aus dem Jahr 2000 vor allem Aufnahmen von Überwachungskameras dazu, die Mechaniken des Überwachens und Erniedrigens der Häftlinge durch die Maschine Gefängnis in einer Intensität deutlich zu machen, die klassische Dokumentarfilme kaum erreichen. Eine ähnliche Qualität hat „Nicht löschbares Feuer“ (1969), sein Recherchefilm über Produktion, Vertrieb und Einsatz von Napalm im Vietnamkrieg.

Haacke wiederum zeigte bereits 1971 in der Installation „Shapolsky et al“ auf, wie in den Jahren 1951 bis 1971 Gebäude in der Lower East Side in New York mehrfach die Besitzer wechselten, diese dabei immer reicher wurden, während die Bewohner wegen steigender Mieten verarmten. Das Wissen, das diese Arbeit produzierte, war so eklatant, dass die Ausstellung damals abgesagt wurde.

Jüngere Vertreter von Praktiken Künstlerischer Forschung sind Forensic Architecture. In der Installation „The Murder of Halit Yozgat“ (2017) stellten Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Gruppe mittels des Nachbaus von Räumlichkeiten, der Analyse von Sichtachsen und der Ausbreitung von Geräuschen nicht nur den NSU-Mord in einem Internet-Café in Kassel 2006 nach. Sie belegten auch, dass der zur Tatzeit anwesende Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas T. den Mord mit hoher Wahrscheinlichkeit bemerkt haben musste.

Künstlerische Forschung markiert eine neue Stufe im Verhältnis von Kunst und Wissensproduktion. Historisch lässt sich zwischen Forschung über Kunst, Kunst mit Forschung sowie Künstlerischer Forschung selbst differenzieren. „Diese Unterscheidungen waren zu Beginn der Etablierung Künstlerischer Forschung sehr wichtig. Bei Forschung über Kunst wird die Kunst zum Gegenstand der Forschung. Es wird also Wissen über Kunst gewonnen wie in der Kunstwissenschaft. Eine zweite Konstellation, die es auch schon lange gibt, ist eine künstlerische Praxis unter Hinzuziehung von Wissen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen. Dafür gibt es in der Geschichte der Kunst zahlreiche Beispiele von optischen, anatomischen oder geometrischen Kenntnissen bis hin zu technologischem Wissen, das die künstlerische Praxis informiert“, erklärt Busch.

Künstlerische Forschung kann auch zur Aufklärung von Verbrechen genutzt werden

Bei Künstlerischer Forschung geht es aber eben nicht mehr darum, Wissen zu nutzen, um attraktivere Bilder zu produzieren. „Mit der Künstlerischen Forschung erfolgt eine ganz grundlegende Verschiebung in den Künsten. Durch sie gewinnen epistemische Kriterien gegenüber ästhetischen Kriterien an Bedeutung. Wissen ist zum Material der Kunst geworden. Es ist das Medium, in dem sich die künstlerische Praxis vollzieht, das sie bearbeitet, kritisiert, weitertreibt oder verunsichert“, betont Busch.

Diese Definition von Künstlerischer Forschung steht allerdings im Widerspruch zu manchen Artistic-research-Programmen, die sich an Kunsthochschulen durchzusetzen beginnen. Bei ihnen handelt es sich häufig um bloße Verwissenschaftlichung von Kunst zur Erlangung eines Doktor-der-Philosophie-Titels. Umso wichtiger ist die institutionelle Unabhängigkeit des Berliner Stipendienprogramms zur Künstlerischen Forschung. „Es ist für uns zentral, mit dem Programm einen außerakademischen Forschungszusammenhang aufzubauen, in dem nicht nur Forschungsprojekte gefördert, sondern auch der Begriff der Künstlerischen Forschung befragt und weiterentwickelt wird“, unterstreicht Busch. So gesehen ist es ein Glücksfall, dass die Berliner Kulturverwaltung sehr schnell auf Vorschläge und Forderungen der Koalition der freien Szene einging. Der Kultursenat schreibt seit 2020 über die Gesellschaft für Künstlerische Forschung ein Förderprogramm für zweijährige Stipendien für jeweils 30.000 Euro pro Jahr aus.

Für die nahe Zukunft könnte Künstlerischen Forschung auch bei der Erkenntnisgewinnung zum Umsteuern von Wirtschaft und Gesellschaft zur Eindämmung des Klimawandels mitwirken. Denn dabei handelt es sich oft um nur über längere Zeiträume wahrnehmbare Prozesse, die durch künstlerische Verfahren eindrücklicher werden. Außerdem verknüpfen und beeinflussen sich hier naturwissenschaftliche Mess- und Beobachtungsverfahren mit sozialen Praktiken und medialen Erregungskurven.

Für die Förderjahre 2022 und 2023 wurden im Sommer 2021 13 Projekte aus 374 Bewerbungen ausgewählt. Die Ausschreibung des nächsten Förderzyklus erfolgt 2023.

Info unter www.gkfd.org/berliner-foerderprogramm/