Alchemie für eine zerfallende Welt

Freiheitsliebend und konsequent: Der hierzulande kaum bekannten tschechischen Surrealistin Toyen widmet die Hamburger Kunsthalle die erste umfassende Retrospektive

Geschlossene Tür, Wucherndes und Schatten: „Mýtus světla“ („Mythos des Lichts“, 1946) Foto Foto: : Moderna Museet, Stockholm © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Von Petra Schellen

Ihre vielleicht wichtigste Tat ihres Lebens erscheint in einem Nebensatz: Vier Jahre lang hat die Prager Künstlerin Marie Čermínová (1902–1980) während der deutschen Besatzung den jüdischen Dichter Jindřich Heisler versteckt – im Bad ihrer Einzimmerwohnung. Ein Freundschaftsdienst, der für Čermínová, die sich nach dem französischen „Citoyen“, Bürger, „Toyen“ nannte, selbstverständlich war. Ein einziges ihrer Bilder zeugt von dieser Phase, in der sie sich, ohnehin mit Berufsverbot belegt, zusätzlich in Gefahr brachte; darauf zu sehen sind eine Badezimmertür, eine Männersilhouette und ein Wolfsschatten.

Überhaupt war die Welt Toyens während des Zweiten Weltkriegs in Trümmer gefallen. Nicht nur errichteten die Deutschen unter ihrem Fenster einen Schießübungsplatz, auch das Massaker im Dorf Lidice – Racheakt für das tödliche Attentat auf den SS-Mann und Holocaust-Organisator Reinhard Heydrich – hat sich in ihr Bewusstsein gegraben; die bedrückenden Zeichnungen „Kinder von Lidice: Warum?“ zeugen davon. Verstörend wirkt mit seinen Tierskeletten auf verbrannter Erde auch der Zyklus „Versteck dich, Krieg“.

Oder das Gemälde einer angefressenen Vogelscheuche im Soldatenhabit vor einer Reihe antiker Herrscherbüsten: „Der Krieg“ heißt das deutlich dem Surrealismus verpflichtete Bild. Dabei wollte sich die hierzulande kaum bekannte Künstlerin lange nicht „Surrealistin“ nennen; wie die Genderzuordnung schien ihr auch dieses Korsett zu eng. Ab 1923 aktiv in der Prager Avantgardegruppe Devětsil, „Pestwurzel“, waren ihre Anfänge konstruktivistisch-abstrakt, wichen während einer Paris-Reise dann „naiven“, humorigen Kabarett- und Zirkusszenen. Die habe Toyen aber zurückdatiert, schreibt Anna Pravdová, eine der drei Kuratorinnen, im Ausstellungskatalog: Als sie begriffen habe, dass dieser Stil dort bereits überholt war.

Nach Paris zu gehen, war nötig geworden, als 1948 – nur wenige Jahre nach dem Ende der deutschen Besatzung – die Kommunisten in der Tschechoslowakei an die Macht kamen und sich die Rigorosität des Stalinismus anbahnte

Während eines weiteren, insgesamt dreijährigen Paris-Aufenthalts gründete sie später gemeinsam mit ihrem Malerfreund Jindřich Štyrský den „Artifizialismus“. Der suchte die „poetischen Lücken zwischen den Dingen“ und propagierte die Identität von Maler und Poet. Sie wollten etwas Neues erfinden, die beiden vorherrschen Strömungen Abstraktion und, eben, Surrealismus vereinen. Neu waren daran allerdings weniger die Themen als die Techniken: mit Sand vermischte, teils in Airbrush-Technik aufgebürstete Farbe, mit der mysteriöse organische Formen auf die Leinwand gesetzt wurden. Erotisch wirkende Muscheln, Blüten und Stalagmiten wabern durch die Bilder, die an Unterwasserlandschaften erinnern. Oder an Sphären des Unbewussten, ein beliebtes Thema des Surrealismus: Max Ernst, Salvador Dali und Yves Tanguy – dem die Hamburger Ausstellung eine eigene Wand widmet – mögen Vorbilder gewesen sein.

Toyen ging weiter: Sie zersplitterte die gerade erfundenen Formen, ließ den Frauentorso „Magnetische Frau“ nicht nur – dem Analogiedenken der Surrealisten treu – wie einen Berg wirken, sondern auch rissig werden und innen leer. Was ist nun Schein, was Sein, hat es Sinn, eine Hülle darzustellen? Muss man das vielleicht sogar, um Gefühlen, Gedanken, Träumen darin Raum zu geben? Toyen war angekommen: Sie wurde Gründungsmitglied der ersten Surrealistengruppe der Tschechoslowakei, gesellte sich später, nach ihrem Exil, zu den französischen Surrealisten um André Breton, nahm regelmäßig an deren Treffen teil.

Nach Paris zu gehen, war nötig geworden, als 1948, nur wenige Jahre nach dem Ende der deutschen Besatzung, die Kommunisten in der Tschechoslowakei an die Macht kamen und sich die Rigorosität des Stalinismus anbahnte. Toyen hatte das ganz konkret erfahren: Paul Eluard, einst enger Freund, hatte sie 1946 aufgefordert, dem Surrealismus abzuschwören. Als sie sich weigerte, bedrohte er sie. Auch ein anderer langjähriger Weggefährte, der Dichter Vítězslav Nezval, trat der KPD bei und forderte die harte Kontrolle der Kunst durch die Partei.

Das alles wollte Toyen nicht und zog 1947 gemeinsam mit Heisler nach Paris. Dort war sie mittellos, aber frei, zumal sie sich inzwischen – anders als vor dem Krieg in der Tschechoslowakei – weigerte, Texte zu illustrieren, die ihren eigenen Ideen widersprachen. Dafür unterzeichnete sie ein Manifest, in dem die Pariser Surrealisten den Stalinismus, die „Ein-Parteien-Diktatur“ verurteilten und ebenso die Politik einer kommunistischen Partei, die sich „von der revolutionären Tradition der Arbeiterbewegung“ entferne. Zugleich geißelten die Unterzeichner den Kapitalismus als „politische Unterdrückung durch die Bourgeoisie“. Stattdessen unterstützten Breton und andere eine Zeitlang die teils anarchistisch, teils libertär orientierte „Weltbürgerbewegung“.

Bloß nicht einengen: Toyen und Karel Teige (l.) 1924 in Prag Foto: © Katrin Backes, Sylvain Tanquerel

Toyen versuchte diese „Wandlung der Welt“ auch mit künstlerischen Mitteln zu befördern, und das unter Rückgriff auf die unter Surrealisten beliebte Alchemie: Da scheinen sich Farbwellen aus dem roten Bildgrund zu lösen, sich ins Dreidimensionale zu materialisieren. Anderswo schauen Augen aus einer Gebirgsspalte – das Bild heißt „Der Ursprung der Wahrheit“. Dann wieder malt Toyen Embleme: alte Hauszeichen wie „Zum Goldenen Baum“ oder „Zur Schwarzen Sonne“ aus der Prager „Alchimistengasse“.

Auch der Zeichnungszyklus „Weder Flügel noch Steine, Flügel und Steine“ wirkt zunächst wie eine willkürliche Skizzensammlung aus Federn, Steinen, Vögeln, aus belebten und unbelebten Dingen. Und ist eigentlich der Versuch einer Rekonstruktion disparater Teile, einer der durch Krieg und Totalitarismen zerfallenen Welt.

bis 13. 2., Hamburg, Kunsthalle