Stimmen aus Kiew

In der Hauptstadt der Ukraine suchen die Menschen Schutz vor russischen Luftangriffen. Unser Korrespondent und zwei Kiewerinnen berichten

Während die Sirenen neue Angriffe ankündigen, fliehen Menschen in Kiew in den Keller eines Gebäudes Foto: Emilio Morenatti/ap

„Wir können nur abwarten“

Wir haben die Nacht im Badezimmer verbracht, weil es kein Fenster hat

Am Donnerstagmorgen bin ich von den lauten Explosionsgeräuschen aufgewacht und habe mich sehr erschrocken. Ich lebe allein mit meiner Katze im Stadtzentrum, und dort allein zu sein, machte mich sehr nervös. Ich konnte mir nie vorstellen, dass so etwas wirklich passiert.

Ein Freund erklärte sich bereit, mich abzuholen und mit mir zu dem Haus eines Freundes zu ­fahren, 30 Kilometer südlich von Kiew in der Stadt Schytomyr. Ich schnappte mir meine Notfalltasche, die ich schon vor ein paar Tagen vorbereitet hatte – Dokumente, Geld, ein paar Kleidungsstücke. Um 10 Uhr verließ ich mit meiner Katze die Wohnung.

In der Stadt war Chaos. Überall standen die Menschen Schlange – vor den Supermärkten, Drogerien, Geldautomaten. Verrückter Verkehr auf den Straßen, die aus der Stadt führen. Für die Fahrt, die sonst 40 Minuten dauert, brauchten wir fast fünf Stunden. Ich hörte Militärflugzeuge über meinem Kopf, Explosionen und Beschuss. Alles, woran ich denken konnte, war: Werden wir jetzt sterben oder nicht?

Wir erreichten das Haus unseres Freundes kurz nach 15 Uhr. Dort leben vier Personen, zwei Hunde und eine Katze. Ob wir hier sicher sind? Ich glaube nicht.

Wir hörten die ganze Zeit Granaten. Ich vermute, die Geräusche kamen von der nahe gelegenen Militärbasis Gostomel. Das Haus hat keinen Keller, also einigten wir uns darauf, die Nacht im Badezimmer zu verbringen, weil es kein Fenster hat.

Am Abend sprach ich mit dem moldauischen Fernsehen. Sie fragten mich, wie dieser Krieg meiner Meinung nach enden würde. Ich wurde wütend. Wie zum Teufel sollte ich das wissen? Ich bin nur eine gewöhnliche Zivilistin, die Angst hat, getötet zu werden.

Wir hatten keinen anderen Plan als den nächsten Morgen abzuwarten. Ich sehe absolut keinen Sinn darin, irgendwo innerhalb des Landes umzuziehen. Es gibt ohnehin keinen wirklich sicheren Ort. Wenn es mehr oder weniger ruhig ist, werden wir versuchen, nach Westen zu fahren und die Grenze zur Republik Moldau zu überqueren. Das Problem ist, dass wir nur ein Auto haben. Bei einem anderen sind auf dem Weg zwei Reifen geplatzt.

Oksana P., 30, ist Journalistin in Kiew

Protokoll: Kateryna Kovalenko; aus dem Englischen von Nora Belghaus

„Die Stadt ist zu. Man kann raus, aber nicht rein“

Von Bernhard Clasen

Immer wieder donnert es im Hintergrund, dazwischen hört man die Vögel, es wird Frühling. Dann wieder Sirenen. Wenn die Sirenen heulen, mache ich das Fenster zu, und schon geht es mir besser. In der Innenstadt rennen dann viele in die U-Bahn-Stationen. Seit zwei Tagen ist die Nutzung der U‑Bahn kostenlos. Auch weil man die U-Bahn gut als Luftschutzraum nutzen kann.

An Kellereingängen und Tiefgaragen bilden sich Menschentrauben. Jederzeit kann es losgehen, und dann hat man nur noch den Keller. Glücklicherweise ist mein Schutzraum von meiner Haustür nur einen Handgriff entfernt.

Bis sieben Uhr morgens ist Ausgangssperre. Schwer für mich als Frühaufsteher. Dann, am Freitagmorgen, der erste Gang, genauer gesagt die erste Fahrt mit dem Rad zum Bankautomaten. Ich habe einen entdeckt, der noch funktioniert. Die meisten sind schon „vorübergehend außer Betrieb“. Allerdings werden die Beträge, die man pro Tag herausholen kann, immer geringer. Viele Geschäfte haben geschlossen an diesem Morgen. Andere machen erst später auf, Alkohol darf erst nach 10 Uhr morgens verkauft werden.

Ich finde einen Supermarkt, der geöffnet ist. Einige Regale sehen schon sehr übersichtlich aus, insbesondere in der ­Brotabteilung bilden sich Schlangen. Am Donnerstag gab es schon nachmittags kein Brot mehr. Im Geschäft kann man nicht mehr mit Kreditkarte bezahlen. Der Kontakt zum Server der Bank sei unterbrochen, heißt es auf Schildern. Kiew ist zu, man kann raus, aber nicht rein.

Das Militär hat einen Ring um die Stadt gebildet. In einen der kilometerlangen Staus will ich nicht. Vor allem in dem Wissen, dass ich nicht mehr zurück kann. Hier in Kiew habe ich noch Strom und Wasser. Ich bin froh, dass ich ein gutes Fahrrad habe, da bin ich nicht von den Tankstellen abhängig, und kann von Bankautomat zu Bankautomat radeln. Und den Fahrradhelm nehme ich mit in den Schutzraum, sobald ich dort rein muss.

Plötzlich fahren alle weg. „Hallo, ich bin schon in Schitomir“, schreibt mir meine Bekannte Olga. „Ich will durchkommen nach Polen.“ Und ein deutscher Kollege sagt mir, er habe ein Auto gefunden, fahre mit seiner Frau und einem weiteren Kollegen nach Polen. „Hier im Zentrum ist die Panik ausgebrochen. Die Russen werden wohl bald da sein. Ist wohl wirklich besser, ich hau jetzt ab.“ Eine spanische Kollegin, die im Zentrum lebt, spürt von dieser Panik wenig. „Bei mir in meiner Wohnung ist alles ruhig. Kein Auto, keine Musik, kein Lärm. So ruhig war es in Kiew schon lange nicht mehr“, sagt sie. Weg will sie trotzdem.

Robert aus einem Kiewer Vorort bedauert es, dass er seine Familie nach München geschickt hat. „Jetzt sitzen sie im Stau fest. Die wären besser in Kiew geblieben.“ Olga sieht das anders. Auch sie steckt im Stau, bis zur polnischen Grenze ist es noch weit. „Aber es ist immer noch besser, irgendetwas zu machen, als ganz starr in seinem Zimmer zu sitzen und hören zu müssen, wie es kracht, und zu sehen, wie die eigenen Wände wackeln.“ Sie weiß, wovon sie spricht, wohnt sie doch in der Nähe eines umkämpften Militärflughafens.

Auch ich habe einen Koffer und eine Tasche gepackt. Der Koffer ist fertig für den Fall, dass ich kurzfristig eine Ausreisemöglichkeit bekomme. In der Tasche sind zwei Flaschen Mineralwasser, Schlafsack, Zahnbürste, Zahnpasta und Lebensmittel.

Anna Prokajewa berichtet aus Charkiw über die Kämpfe dort. Und sie ist sich sicher: „Wenn wir prorussische Machthaber bekommen sollten, werden wir ein zweites Russland sein. Und dann ist dieses Land für mich nur noch ein Territorium, ohne Seele und ohne Werte. Russland ist nicht die Vorherrschaft des Rechts. Russland demonstriert einfach nur Gewalt. Und das passt nicht mehr rein in das 21. Jahrhundert.“

Der Hass auf den Feind nimmt zu. Auch die, die noch vor Tagen von einer Lösung ohne Gewalt geträumt haben, wünschen nun dem Angreifer den Tod. Auch die russische Ankündigung, nur militärische Ziele anzugreifen, scheint wohl ein Propagandatrick gewesen zu sein.

Irgendjemand postet das Bild eines angegriffenen Wohnhauses auf der anderen Seite von Kiew.

„Russische Panzer fuhren durch meine Straße“

Mein Verlobter hat sich vor ein paar Tagen für die Territoriale Verteidigung (Anm. d. Red.: eine militärische Reservekomponente der ukrainischen Streitkräfte) gemeldet und sich am Donnerstagmorgen einer Gruppe angeschlossen. Ich bin mit meiner Katze zu Hause geblieben.

Die Ukrainer sind eben Ukrainer: In der Nähe der Stadt war Granatenbeschuss zu hören, aber sie tun so, als wäre nichts passiert. Sie gehen mit ihren Hunden spazieren, stehen an Bushaltestellen, rauchen und diskutieren über die aktuelle Lage. Einige Männer verkauften am Donnerstag bis zum Abend Obst und Blumen in der Nähe meines Hauses. Das Einzige, was anders ist, sind die Warteschlangen vor den Supermärkten und Drogerien.

Als um 22 Uhr die Ausgangssperre begann, stellte die U-Bahn ihren Betrieb ein und verwandelte sich in einen Schutzraum. Die Menschen wurden aufgefordert, sich im Falle eines Bombenangriffs dort zu verstecken. Ich ging zur nächstgelegenen Station in Obolon, viele Menschen waren bereits dort. Sie kamen mit ihren Kindern und älteren Angehörigen, Haustieren, Decken und Lebensmitteln. Die Sitze in den Zügen wurden als Betten benutzt, aber die meisten Menschen saßen oder lagen auf dem Boden. Ich hatte einen Rucksack mit den wichtigsten Dingen dabei und die Katze, die die ganze Nacht zitterte. Ich konnte auch nicht einschlafen, es war eine sehr schwierige Nacht. Ich war allein und machte mir Sorgen um meinen Verlobten und meine Eltern in Charkiw.

In der U-Bahn hört man nichts – keinen Beschuss, keinen Alarm. Am frühen Freitagmorgen gab es ein paar Explosionen, aber das erfuhren wir aus den Nachrichten. Als ich die U-Bahn verließ, fühlte es sich an, als hätte sich draußen nichts verändert.

Meinen Verlobten kann ich immer noch nicht erreichen. Ich bin zu Freunden gegangen und habe sie gebeten, sich um die Katze zu kümmern, damit auch ich mich einer Territorialverteidigungsgruppe anschließen kann. Als ich wieder nach Hause kam, fuhren russische Panzer durch meine Straße.

Tetjana S., 28, ist Kamerafrau in Kiew

Protokoll: Kateryna Kovalenko

Aus dem Englischen von Nora Belghaus