Selbstironie und Kartoffeln

Im Silent Green würdigt die Ausstellung„Das dritte Leben der Agnès Varda“ die französische Künstlerin und Regisseurin, dazu zeigt das Kino Arsenal die Filmreihe „Passagen“

Keineswegs hinter ihrem Werk verschwunden: Agnès Varda   Foto: Julia Fabry/Cine Tamaris

Von Michael Meyns

Als im Mai die Filmfestspiele von Cannes ihr 75. Jubiläum begingen, war der legendäre Vorspann, der zur Musik von Camille Saint-Saëns' „Karneval der Tiere“ läuft, ein wenig verändert: Auf den Treppenstufen, die sich aus dem Wasser erheben, standen Namen von großen Regisseuren der Filmgeschichte. Ganz oben natürlich die Säulenheiligen wie Martin Scorsese – und auch Agnès Varda. Zudem heißt eines der großen Festivalkinos seit diesem Jahr „Saal Agnès Varda“, und wenn man sich vor Augen hält, dass andere Säle nach Lumiere, Buñuel oder Bazin benannt sind, mag man ermessen, welchen Stellenwert die 2019 im Alter von 90 Jahren verstorbene Filmemacherin in ihrer französischen Heimat besitzt.

Man könnte nun zwar einwenden, dass das notorisch männerlastige Cannes zeigen will, dass es sich dem Zeitgeist nicht verschließt und auch Frauen verstärkt würdigt, doch damit würde man Leben und Werk einer Künstlerin unterschätzen, die sich im Lauf der Jahre immer wieder neu erfunden hat und zum Ende ihres Lebens längst nicht mehr „nur“ Regisseurin war. „Das dritte Leben der Agnès Varda“ heißt denn auch eine Ausstellung im Silent Green, die zum ersten Mal in Deutschland einen umfassenden Blick auf Varda als bildende Künstlerin ermöglicht.

Am 30. Mai 1928 in Brüssel geboren, studierte Varda nach dem Krieg an der Sorbonne. Ihren Wunsch, Kuratorin zu werden, verwarf sie bald und begann, Fotografie zu studieren, ihr erstes Leben, ihre erste Karriere. Passenderweise sollte Varda später in der Rue Daguerre wohnen, benannt nach Loius Daguerre, einem der Pioniere der Fotografie. In den 50ern arbeitete Varda als Porträtfotografin, war an Theatern für die Szenenfotografie engagiert, reiste aber auch für Fotoreportagen um die Welt. Dokumentarische Aufnahmen entstanden, die in vielem den genau beobachtenden Realismus ihrer frühen Filme vorwegnahmen.

Beispiele für Vardas Dokumentarfotografie finden sich auch in der Ausstellung, einer Bildreihe etwa, die 1960 im bayerischen Dinkelsbühl entstand. In scharf kontrastierten Schwarzweißbildern fängt Varda das Leben auf dem Dorf ein, ganz alltägliche Momente, die schon die große Neugier, den genauen Blick verraten, Qualitäten, die Vardas Arbeiten durch die Jahre auszeichnen werden.

Mit dem Klassiker „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ fand dann 1962 Vardas zweites Leben, das der Filmregisseurin, einen ersten Höhepunkt. Die Entwicklung von stillen zu bewegten Bildern war nur konsequent, auch der realistische, beobachtende, fast dokumentarische Ansatz, der ihre Filme oft auszeichnete. Dass Vardas filmisches Debüt „La Pointe Courte“ schon 1955 entstand, wird gern betont, denn dieser Zeitpunkt liegt vor den Debüts der oft bekannteren Regisseure der Nouvelle Vague: Godard, Truffaut, Rivette und all die anderen. Während die Genannten aus dem Umfeld der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma stammten, zählte Varda zusammen mit Regisseuren wie Alain Resnais und Chris Marker zur Groupe Rive Gauche.

Links war Varda ohne Frage, aber nie ideologisch, auch wenn sie in späteren Filmen dezidiert politisch wurde

Links war Varda ohne Frage, aber nie ideologisch, auch wenn sie gerade in späteren essayistischen Filmen wie „Les Glaneurs et la Glaneuse“ dezidiert politisch wurde. Dieser und andere Filme sind in einer bis zum 17. Juli laufenden Filmreihe im Arsenal zu sehen, die Parallelen zwischen filmischem und installativem Werk aufzeigt. Um Sammler geht es, um Sammler von Bildern und Ideen, wie es Varda war, vor allem aber auch um Menschen, die weggeworfenes oder liegen gebliebenes Essen sammeln, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Ausgestoßene der Gesellschaft porträtiert Varda hier und findet ein prägnantes Bild: Immer wieder zeigt die Kamera Kartoffeln, die nicht der Produktionsnorm entsprechen und daher aussortiert werden. Doch Varda mit ihrem stets neugierigen, offenen, humanistischen Blick findet gerade in diesen Kartoffeln besondere Schönheit.

Wie sehr sie die oft herzförmigen Kartoffeln fasziniert haben, zeigen wiederum diverse ausgestellte Arbeiten: Eine Fotoserie zeigt Kartoffeln inszeniert wie preziöse Objekte, in einer großen Installation, die 2003 auf der Biennale in Venedig ausgestellt war, sind Hunderte Kilogramm Kartoffeln auf der Erde verteilt, während im Hintergrund auf drei Monitoren Nahaufnahmen, Ackerfurchen und Keime des Grundnahrungsmittels zu sehen sind.

Mit welcher Selbstironie Varda sich, ihr Werk und die Welt betrachtete, zeigt ein lebensgroßes Kartoffelkostüm, das Varda zu einer Vernissage einst selbst getragen hat. Als Kontrast dazu am Eingang der Ausstellung ein Werk der Melancholie: „Meeresküste“ zeigt eine Welle, die im Sand verläuft, Sand, der auch in den Ausstellungsraum übergeht, zum Innehalten einlädt, zur Erinnerung an das vielseitige Werk einer großen Künstlerin.

„Das dritte Leben der Agnès Varda“, Silent Green, bis 20. Juli

„Passagen – Filme von Agnès Varda“, Kino Arsenal, bis 17. Juli