das lieblingsstück (I)
: Musiktheater, das sein musste

Das Beste zum Ende des Kulturjahres im Norden: Ben Frosts Oper „Der Mordfall Halit Yozgat“ in Hannover

So sollte Oper sein. Dumm nur, dass kein Ensemble das Werk nachspielen wird

Die Leute vom Staatsorchester können es nur gehasst haben: Minimal Music ist für die Instrumentalist*innen, die ständig dieselbe Figur mit leichten, vor allem rhythmischen Varianten zu schrummeln haben, eher eine Geduldsprobe als ein Vergnügen. Und Ben Frosts Musik­theaterstück „Der Mordfall Halit Yozgat“ ist kompositorisch Minimal Music in solcher Reinform, dass sich die Frage aufdrängen könnte, ob der Aufwand nötig ist und lohnt: Da performen hoch spezialisierte Mu­si­ke­r*in­nen etwas, das sie technisch eher unterfordert, individuellen Ausdruck nicht erlaubt und insofern elektronisch hergestellt viel günstiger zu haben gewesen wäre.

Und doch war die Uraufführung am 1. Mai in der Staatsoper Hannover das in Norddeutschland für mich kulturell bedeutendste Ereignis 2022. Auch weil ich dieses Missverhältnis selbst als Teil des Stücks gedeutet habe: Entspricht es nicht dem, was die Ermittlungs-Ergebnisse im Vergleich zur Tat und den Verdachtsmomenten so völlig inadäquat erscheinen lassen? Im Beisein des Verfassungsschützers Andreas T. war Halit Yozgat 2006 in seinem Internet-Café in Kassel ermordet worden – von Mitgliedern der rechtsextremen Terrorgruppe NSU. Die Frage, wie sehr der hessische Geheimdienstler in das Geschehen involviert war, haben weder die Polizei noch die Forscher der von der „Gesellschaft der Freunde Halits“ beauftragten Gruppe „Forensic Architecture“ mithilfe der Sequenz „77SQM_9:26MIN“ aus einem Überwachungsvideo zweifelsfrei klären können. Unter diesem Titel war die räumlich-zeitliche Rekonstruktion vor fünf Jahren auf der Documenta in Kassel als durchaus anklagendes Kunstwerk zu sehen gewesen.

Darauf hat Librettistin Daniela Danz zurückgegriffen: Ihr Textbuch ist nur etwa anderthalb Seiten lang, die Dauer der Handlung beträgt nicht ganz neuneinhalb Minuten, die aber durch mehrfache Wiederholungen aus je unterschiedlicher Perspektive eine Spieldauer von gut zwei Stunden ergeben, die ganz sicher nicht als Schuldzuweisung und Ersatzverurteilung von Andreas T. fungieren, wie es die kriminalistische Rekonstruktion auf der Documenta 2017 tendenziell tat.

Oft wird gesellschaftliche Bedeutsamkeit im Theater nur behauptet. Bei nahezu jedem Klassiker wird im Promo-Text drangeschrieben, dass er ja wohl aktueller denn je sei und genau die Fragen unserer Gegenwart antizipiere. Meistens stimmt das nicht. Oper, gerade Oper, als die am meisten subventionierte und zugleich am deutlichsten ausgrenzende Kunst- oder wenigstens Theaterform, die sich durch ihre staatlichen Geldgeber oft genug gezwungen sieht, mehr Bestands- und Kanonpflege als Innovation zu verwirklichen, hatte es hier einmal geschafft, relevant zu sein. Und durch Verzicht auf eine hermetisch hochgerüstete Harmonik und deren komplexe Codes zugänglich und inklusiv.

Denn dank des Stücks beansprucht der nur formal beendete, aber ungeklärte und vermutlich unabschließbare verdrängte Konflikt die große Bühne. Er bohrt sich als eine rumorende, tremolierende Ungewissheit ins Hirn, so, wie er in den Tiefen des rechtsstaatlichen Systems fortlebt. Bedrohlich schwillt seine Lautstärke an. Sie droht, alles zum Einsturz zu bringen. Jeder versteht das, es geht alle an: So sollte Oper sein. Dumm nur, dass kein Ensemble das Werk nachspielen wird und auch in Hannover die letzte Aufführung schon vorbei ist. Benno Schirrmeister