Rentenreform zwischen Parlament und Straße

Erneut protestieren in Frankreich über eine Million Menschen gegen die geplante Er­hö­hung des Renteneintrittsalters. Im Parlament gibt es zunächst auch keine Mehrheit dafür

Ge­werk­schaf­te­r*in­nen des CGT-Dachverbandes gingen am Dienstag zum dritten Mal zum nationalen Protest auf die Straße Foto: Eric Gaillard/reuters

Aus Paris Rudolf Balmer

Zum dritten Mal innerhalb von drei Wochen haben am Dienstag schätzungsweise mehr als eine Million Menschen in zahlreichen französischen Städten gegen eine unpopuläre Rentenreform demonstriert, die nun auch in der Nationalversammlung debattiert wird.

Auch wenn am dritten Aktionstag etwas weniger gestreikt wurde als zuletzt am 31. Januar, halten die vereinten Gewerkschaften den Druck auf die Regierung aufrecht. Bereits am Samstag wollen sie erneut demonstrieren. Bei der Kundgebung in Paris erklärte der Vorsitzende des CGT-Dachverbands, Philippe Martinez, falls Präsident Emmanuel Macron und die Regierung nicht auf das Volk hören wollten, könnten die Gewerkschaften mit härteren Streiks den Konflikt verschärfen.

Tags zuvor hatte in der Nationalversammlung die Debatte über die umstrittene Rentenreform begonnen, mit der unter anderem eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre ab 2030 geplant ist. In seiner Einleitung erklärte Haushaltsminister Gabriel Attal, es gehe um das Überleben des französischen Rentensystems: „Die Reform oder die Pleite“, so laute die Wahl.

Dramatisch war auch der Ton der Opposition. So sagte der linke Abgeordnete François Ruffin von La France insoumise: „Unser Land hat die Corona-Epidemie hinter sich, wir sind erschöpft und müde. Dann kommt der Krieg in der Ukraine, das Benzin für mehr als 2 Euro und enorm steigende Energiepreise. Und was bieten Sie den Franzosen in diesem Tunnel als Licht am Ausgang an? Welche Hoffnung, welchen Wunsch für die Zukunft? Nichts, gar nichts, außer einer jämmerlichen und niederträchtigen Rentenreform!“

Aufgebracht sind die Geg­ne­r*in­nen der Regierungsvorlage auch, weil ihnen trotz der weitreichenden Bedeutung der Reform mit bloß zehn Tagen wenig Zeit gewährt wird. Die Abgeordneten der linken Allianz Nupes (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) haben nahezu 20.000 Änderungsanträge eingereicht, sie wollen so die Debatten unendlich in die Länge ziehen und womöglich eine Abstimmung verhindern.

Das könnte eventuell der Premierministerin Elisabeth Borne entgegenkommen. Denn es ist keineswegs sicher, dass sie für ihre Vorlage eine Stimmenmehrheit in der Nationalversammlung erhalten wird. Die drei Pro-Macron-Fraktionen (Renaissance, Modem und Horizons) verfügen nicht mehr über eine absolute Mehrheit. Und auch mehrere Abgeordnete des Regierungslagers kritisieren die Reform offen als „sozial ungerecht“ oder speziell diskriminierend für Frauen und Senioren. Auch ist ihnen nicht entgangen, dass laut Umfragen mehr als 70 Prozent der Bür­ge­r*in­nen die Reform ablehnen.

Borne setzt darum ihre Hoffnung auf die Stimmen der konservativen Oppositionspartei Les Républicains. Diese ist seit Langem für die Erhöhung des Renteneintrittalters, fordert aber weitere „Verbesserungen“. Am Sonntag hatte die Regierungschefin den zögernden konservativen Abgeordneten in Aussicht gestellt, sie könne ihnen in einem Punkt entgegenkommen: Wer schon mit 20 Jahren erwerbstätig wurde und dann 43 Jahre gearbeitet habe, könne schon mit 63 in Rente gehen. Ob diese geringfügige Konzession etwas bewirkt, ist noch unklar. Zu Beginn der Debatte waren laut Medienangaben nur 181 Abgeordnete der insgesamt 577 Abgeordneten bereit, der Reform zuzustimmen.

Die Regierung behält sich vor, im Notfall den Verfassungsartikel 47.1 anzuwenden. Dieser erlaubt es ihr, die Reform ohne parlamentarischen Segen einfach per Dekret zu beschließen. Der Griff zu dieser autoritären Prozedur wäre zweifellos noch ein zusätzliches Motiv für regierungsfeindliche Mobilisierungen.