Kids machen Nächte klug

Faszination und Masse helfen die tiefe Kluft zwischen Volk und Forschern zu überwinden. Lange Nächte der Wissenschaft sind immer dann spannend, wenn Forscher sich Kindern erklären müssen

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER

Adrian von Buttlar ist ein Architekt wie gemalt. Ganz in Schwarz hat er sich hinter seinem Pult aufgebaut. Der Professor trägt einen ansehnlichen Dreiteiler. Nun lugt er über eine halbe Brille hinweg sein Publikum an. Vier Kinder und noch mal doppelt so viele Erwachsene, typisches Auditorium einer Wissenschaftsnacht. Es will hören, was von Buttlar unter dem Titel zu erzählen weiß: Wenn Denkmäler ihre Meinung ändern.

Dann aber witzelt der Experte für die Kunstgeschichte der Architektur etwas von „Tres faciunt universitas“. Ab drei Anwesenden, so lautet die lateinische Regel, muss er lesen – was von Buttlar wörtlich nimmt: Tatsächlich liest er seine populärwissenschaftliche Abhandlung bei der Berliner Langen Nacht der Wissenschaften vom Blatt ab. So verleitet die Translozierung von Denkmälern, sprich deren Umsetzung im Stadtraum, relativ schnell zum Ortswechsel.

So ist von Buttlar. So sind viele seiner Kollegen professores in der 6. Wissenschaftsnacht, der ältesten in dieser jungen Disziplin in Deutschland. Und so ist, leider, fast die ganze Wissenschaft. Segensreich, braucht viel Geld, will immer mehr davon – aber sie versteht es nicht recht, sich dem gemeinen Publikum mitzuteilen.

Die Paradoxien im Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft könnten nicht größer sein. Wissen als der einzige deutsche Rohstoff – das ist die meistgeleierte Drehorgel in Sonntagsreden. Allein sind die Bedingungen für Wissensproduktion, egal ob in Kindergarten, Schulen oder Hochschulen, mäßig bis beschissen. Nicht einmal Akademiepräsidenten wie Dieter Simon scheuen vor Vulgärem zurück, um den niederen pekuniären Rang ihres Standes zu beklagen.

Am meisten schmerzt die Kluft zwischen Schein und Sein dort, wo Wissen politisch verhandelt wird. Ein halbes Jahr debattierte die Föderalismuskommission über die Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Und je länger die Juristen, Staatskanzlisten, die Ökonomen und Machtpokerer da zusammen schacherten, desto seltener drang jenes nach außen, um das es doch ging, gehen musste: Bildung, Wissenschaft, die beiden verbliebenen Hauptkampfplätze in der ideologisch kaum mehr unterscheidbaren Ansammlung von Politikfeldern.

Muss sich deutsche Schule nicht radikal ändern nach Pisa? Soll der Bund Eliteuniversitäten finanziell gesondert fördern? Das waren schon vor der Kommission die Streitfragen schlechthin – um die sich in der von Edmund Stoiber (CSU) und Franz Müntefering (SPD) geleiteten Staatsreformerrunde allerdings niemand recht kümmerte, auch die Medien übrigens nicht. Selten hat man eine so groteske Mischung von Desinteresse an Bildung und beinahe hysterischer Parteilichkeit „für die Zukunft unserer Jugend“ erlebt. Wie kann das sein bei einem Feld, was die Menschen wie kein anderes zu faszinieren vermag?

Es sind noch geschlagene 15 Minuten bis zum Beginn. Aber Hörsaal MA 005 an der Berliner Straße des 17. Juni ist bereits gesteckt voll. Stulleberliner drängeln sich in den steil hinaufragenden Sitzreihen. Omis in bunten Röcken. Junge neugierige Schüler, die genau wissen, dass sie hier im Mathegebäude der Technischen Universität Berlin näher an Harvard sind als sonst wo in der Republik. Die Mathematik der TU, immerhin Teil eines der raren deutschen Forschungscenter (Matheon), lädt zum Erkundungsflug zum Mars.

Die Menschen schweben gebannt hinter ihren 3-D-Brillen über den Mars. Ein leises Ah weht durch den Saal, als der Pilot erläutert: Wir fliegen gerade über einen Vulkan, der 27 Kilometer hoch aufragt; die größte Erhebung auf der Erde, der Mount Everest, kommt nur auf knapp 9 Kilometer. Manch einer würde gern aussteigen am Grand Canyon des Mars, so realitätsnah sind die Bilder.

Bei der räumlichen Animation wird allerdings überhaupt nicht klar, wie die Mathematiker den Mars in MA 005 zu zaubern vermögen. Der Dozent brummt irgendetwas von Mars-Explorer und -Express in den Bart. Er zitiert rätselhafte Daten, die nicht mehr rotstichig seien. Aber das ist vollkommen egal, die Menschen sind fasziniert. Sie spüren, dass Wissenschaft diesen Flug möglich macht. Das reicht ihnen.

Vielleicht ist dieser Marsmoment das Exempel für die Kluft zwischen Wissen und Volk. Sie prägt nicht allein die klügste Nacht des Jahres. Sie steht für das Verhältnis von Forschern und Bürgern allgemein. Oben sitzen die Gelehrten in ihrem Elfenbeinturm. Ab und zu, wenn die Gemeinen unten vorbeilaufen, winken die Wissenschaftler aus dem Fenster. Mehr ist nicht, in Wahrheit versteht man sich gar nicht. Es gibt eine Distanz zwischen denen, die auf der Suche nach Erkenntnis sind, und jenen, die das alles ein bisschen zu kompliziert finden. Nur eines kann den Abstand überwinden: Faszination.

Und Masse. Über 100.000 Besuche hat es am Wochenende gegeben in den Berliner Forschungsarealen, die weit über die Stadt verteilt sind, bis Adlershof oder Potsdam konnte man hinausfahren, um in Labore zu gucken. Damit ist Berlin die älteste und größte Nightshow der Wissenschaft, aber längst machen Dresden, Rostock, das fränkische Forschungsdreieck Erlangen/Nürnberg/Fürth und viele andere Städte mit. Die Besucherzahlen dort, jeweils zwischen 10.000 und 20.000, sind zwar weit kleiner als in der Hauptstadt. Aber die Botschaft der jeweiligen Veranstalter, mitgebracht zu einem kleinen Symposium der Berliner Agentur con gressa, war immer dieselbe: Wissen elektrisiert wieder. Forschen wird sexy. Die Menschen draußen können zwar den Frust der Pisa-Analphabeten und der arbeitslosen Nachwuchswissenschaftler genauso wenig dechiffrieren wie die Marsdaten. Trotzdem aber finden sie Wissenschaft attraktiv. Nicht als politisches Projekt, als Elite-Unis oder Ganztagsschulen. Nein, einfach so. Weil Wissen spannend ist.

Und die didaktische Kluft, die Volk und Forscher trennt? Die ist längst erkannt. Die Organisatoren der Österreichischen Nacht der Forschung, die es im Herbst in Wien, Innsbruck und Linz erstmals geben wird, sind etwa von an Anfang an „ziemlich streng an die Sache herangegangen“. Will sagen: Sie trimmen die Projekte, die sich präsentieren wollen, darauf, sich zu vermitteln. Die Forscher sollen Erlebnisse für die Zuschauer kreieren. Auch in Dresden und Erlangen ist viel von theatralischen Elementen die Rede, vom „Wettbewerb in der Erlebnisgesellschaft“.

Vielleicht gehen diese Clownereien schon zu weit. Vermittlung, oder vornehmer: Wissenschaftskommunikation geht wie von selbst – wenn die Besucher ein Kind am Arm haben. Dann setzt jener gesamtbildnerische Effekt ein, denn US-Amerika mit „Family Science Nights“ entdeckt hat. Auch die Berliner Wissenschaftsnacht hat längst etwas davon. Kein Institut kann es sich mehr leisten, kein eigenes Kinderprogramm anzubieten. Und plötzlich übersetzen Studenten und Forscher mühelos, animieren Drei- wie Dreißigjährige, sind alle gemeinsam: neugierig.