„Der Superstar Klopstock“

Die dänische Skandinavistin und Germanistin Anna Lena Sandberg erklärt im Zuge einer Ringvorlesung, wie kosmopolitisch die deutsch-dänischen Salons in Kiel um 1800 waren

InterviewHarff-Peter Schönherr

taz: Frau Sandberg, die aktuelle Ringvorlesung behandelt „Kiel um 1800: Eine deutsch-dänische Gelehrtenrepublik“. Vermutlich hilft es dabei, zu wissen, was der dänische „Gesamtstaat“ war, von 1773 bis 1864?

Anna Lena Sandberg: Das war ein multikultureller und mehrsprachiger Großstaat. Im Kern bestand er aus Dänemark, Norwegen und den deutschen Herzogtümern Schleswig und Holstein. Dazu kamen Island, die Färöer und Grönland, außerdem kleinere Kolonien in Westindien und Afrika. Man verstand sich nicht als Däne oder Deutscher, sondern als Untertan des Königs. Die kulturellen deutsch-dänischen Beziehungen waren sehr dynamisch, die deutsche Kultur war auch eine Brücke nach Europa.

Zählte Kiel zu den Regionalzentren dieses Konglomerats?

Kiel war eine sehr wichtige Stadt, auch durch seine Universität. Altona hat eine ähnliche Rolle gespielt, durch seinen Handel, aber die Hauptstadt war Kopenhagen, und von hier aus wurden die Herzogtümer in der sogenannten Deutschen Kanzlei verwaltet.

Und was bedeutet in diesem Zusammenhang „Gelehrtenrepublik“?

Der Begriff umreißt, dass es eine sehr diverse, übernationale Gemeinschaft aus Universitätsprofessoren, Schriftstellern, Philosophen – und eben auch adligen Frauen in den Salons der Herrenhäuser – war. Man hatte eine kosmopolitische Perspektive; Aufklärungsideen und Gesellschaftsreformen wurden hier diskutiert, auch europäische Literatur und Ästhetik.

Ihr Vortrag wird die Rolle der Salons im kulturellen Leben Kiels beleuchten. Auf was für ein Phänomen blicken wir da?

Auf eines, das seinen Ursprung in Frankreich hat. Salons waren private Treffpunkte, schöngeistige Zentren, auf Gütern und in Herrenhäusern in Holstein, die auch Kunstsammlungen und Bibliotheken hatten. Meist wurden sie von einer Frau geleitet, die wohlhabend verheiratet war. Bei dieser Gastgeberin trafen sich Adel und Großbürgertum. Man sprach über aktuelle Themen, über gemeinsame Lektüre. Es gab Salons mit Lesungen, Theateraufführungen und Konzerten.

Wie wurde da gedacht?

Es gab deutliche Unterschiede, auch regional. Und die Teilnehmergruppen waren nicht homogen, auch nicht der Adel. Im Herzogtum Holstein war das Denken eher konservativ, in Kopenhagen dagegen gab es eine aufgeklärte Reformaristokratie. Die Forschung spricht von einer „Verbürgerlichung des Adels“ im Gesamtstaat. Eines der Spannungsthemen war aber, dass sich um 1800 eine neue Nationalideologie in der neuen dänischen Bürgerklasse abzuzeichnen begann.

Wie verlief so ein Salon­abend?

Manche Gäste hielten sich über mehrere Wochen auf diesen Gütern auf, Philosophen wie Jacobi, Herder oder Lavater. Sie lebten sich in den Tagesrhythmus ein, mit Frühstück, dem gemeinsamen Lesen der Post und der Zeitungen. Abends fand dann der Salon statt. Einer der Superstars der Jahre um 1800 war Klopstock, der eine moderne Dichtung der Emotionen einführte und von Gut zu Gut reiste und die Menschen beim Vorlesen zu Tränen rührte. Es gab aber auch politische Diskussionen, und das große Thema war natürlich die französische Revolution. Die meisten holsteinischen Gutsbesitzer lehnte sie ab, aber andere Salonteilnehmer – wie Klopstock und der zweisprachige Autor Jens Baggesen – waren Befürworter. Das Thema war konfliktträchtig. Aber nicht so, dass man nicht mehr miteinander reden konnte.

Der Einfluss dieser Salons war also nicht nur regional?

Foto:  Foto: privat

Anna Lena Sandberg

51, ist Professorin für Skandinavistik und Germanistik an der Universität Kopenhagen.

Die Salons in den Herzogtümern und Kopenhagen bildeten eine polyzentrische Kultur. Sie waren nicht zuletzt eng mit den Kulturmilieus anderer deutscher Staaten verbunden, mit Weimar etwa. Es existierte ein Transfer: Der junge Goethe etwa war auch von den Ideen einer „nordischen Kultur“angetan.

Und in welcher Rolle sahen sich die Gastgeberinnen?

In der Geschichtsforschung gab es ja lange die Tendenz, eher über das Tun von Männern zu schreiben. Von den Frauen hört man weniger, obwohl auch sie großen Einfluss hatten, auch jenseits der Salons. Sie haben sich, wie wir aus Briefen wissen, in den lokalen Milieus um die Wohltätigkeit gekümmert, um Schulen und Bildung, haben versucht, bessere Verhältnisse für die Bauern einzuführen. Ein Problem ist, dass diese Briefe sehr selektiv ediert wurden, von männlichen Philologen, die statt des Politischen eher das Schöngeistige in den Fokus rückten. Das Wirken dieser Frauen war aber vielfältig, und man könnte es als Ausdruck früher Emanzipation sehen.

Es gibt also Forschungslücken?

Die gibt es. Man muss auf die Quellen zurückgehen, die vollständigen Briefwechsel. Viel befindet sich allerdings in Privatbesitz.

Auch Sie arbeiten daran, diese Lücken zu füllen?

Das Thema Frauen ist sehr wichtig und eher neu für mich. Ich arbeite seit Längerem zum damaligen deutsch-dänischen Verhältnis, das ja halb in Vergessenheit geraten ist. Die Geschichtsschreibung hat den „Gesamtstaat“ meist als ein Provisorium beschrieben, das geradezu zwangsläufig auf nationalistische Tendenzen zusteuerte. Sie hat den Schwerpunkt auf die Konflikte und Kriege des 19. Jahrhunderts gelegt. Die kulturelle und soziale Koexistenz wurde verdrängt. Alles sollte zum nationalen Narrativ passen.

Wie sehen Sie das dänisch-deutsche Verhältnis heute?

Deutschland gilt in Dänemark als ein sehr wichtiges Land, politisch wie wirtschaftlich. Aber das Wissen über die deutsche Kultur ist gering. Wir hätten gern mehr Studierende der Germanistik. Und mit deutschen Sprachkenntnissen sieht es ziemlich schlecht aus, auch wenn Deutsch in unseren Schulen die zweite Fremdsprache ist.

Das Wirken dieser Frauen war vielfältig, und man könnte es als Ausdruck früher Emanzipation sehen

Kulturell fehlt es also an Nähe?

Ja – die Neugierde dem Nachbarland gegenüber könnte größer sein. Was ich sehr schätze in Deutschland, ist die noch wichtige Position und große Rolle der Geisteswissenschaften. In Dänemark werden die humanistischen Fächer von politischer Seite angefochten und reduziert; immer wieder müssen wir uns verteidigen. Derzeit wird diskutiert, ob unsere Masterausbildung auf ein Jahr gekürzt werden soll, was uns – katastrophal – vom übrigen Europa unterscheiden würde.

Soll Ihre Vorlesungsreihe ein Botschafter gegen das kulturelle Vergessen sein?

So ist die Idee.

Wen wünschen Sie sich als Publikum?

Wir hoffen natürlich, dass Studierende kommen, und auch Kollegen. Aber das Ziel ist, auch die Allgemeinheit einzuladen, aus Kiel und Umgebung, als open university.

Im Zuge der Ringvorlesung “Kiel um 1800“ spricht Anna Lena Sandberg über die Rolle der Salons im kulturellen Leben Kiels: 30. 5., 18.15 Uhr, Hermann Ehlers Akademie, Niemannsweg 78, Villa 78