Nur die Toten singen Italienisch

Zur Saisoneröffnung bespielt die Komische Oper den Hangar des Flughafens Tempelhof mit Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“ und einem riesigen Planschbecken

Von Katharina Granzin

„Ich finde, der Fokus lag zu wenig auf der Musik“, sagt eine Zuschauerin beim Hinausgehen hinter mir. Ihre Begleiterin antwortet: „Na ja, aber in der Oper geht es ja auch darum, Dinge zu zeigen“, der Rest des Gesprächs geht im Stimmengewirr unter. Beide Damen haben recht. Eine Opernaufführung ist ein Gesamtkunstwerk, oft genug over the top, die Musik nur noch ein Baustein des Ganzen. Und was die Komische Oper sich zur Eröffnung dieser Saison hat einfallen lassen, der ersten, in der sie außerhalb ihres renovierungsbedürftigen Stammhauses spielen muss, ist pure Überwältigungsstrategie. „Das Floß der Medusa“, ein Oratorium (keine Oper!) von Hans Werner Henze nach einem Libretto von Ernst Schnabel, ist wohl noch nie mit solchem Aufwand inszeniert worden. Der Komponist selbst wird kaum mehr im Sinn gehabt haben als eine konzertante Aufführungsweise; immerhin entstand das Werk als Auftragsarbeit für den Hörfunk. Die einzige hinterlassene Regieanweisung betrifft das Wechseln der Bühnenseite durch die ChorsängerInnen, die vom Chor der Lebenden in den der Toten wandern.

Denn „Das Floß der Medusa“ handelt vom Sterben. Schnabel bezieht sich im Libretto auf ein Ereignis aus dem Jahr 1816: Nachdem die französische Fregatte „Medusa“ havariert war, retteten sich höherrangige Offiziere und Beamte mithilfe der Rettungsboote und ließen alle anderen auf einem manövrierunfähigen Floß zurück. Nur wenige Menschen überlebten. Es gibt ein wandfüllendes Gemälde des Malers Théodore Géricault, auf dem das Leiden der Schiffbrüchigen im Stil klassischer Historienmalerei überhöht dargestellt wird. Auf den performativen Kontext übertragen, ist die Inszenierung von Tobias Kratzer im Hangar des Flughafens Tempelhof von ebensolchen Dimensionen. Zwischen den Zuschauertribünen ist ein riesiges Wasserbecken installiert worden, auf dem ein Floß schwimmt. Schon vor Veranstaltungsbeginn harrt eine Gruppe von Menschen darauf aus: ein Géricaults Gemälde nachempfundenes Tableau vivant. Auch der Solist Günter Papendell ist dabei, ein rotes Signaltuch ausdauernd hochhaltend.

Ein rotes Tuch ist nicht nur bei Géricault zentral, sondern gehörte auch zu den Insignien des Uraufführungsskandals um das Oratorium im Jahr 1968. Im Clash zwischen sozialistischen Musikstudierenden, einer Abordnung des SDS und der vom NDR vorsorglich bestellten Polizei, die wacker gegen Che-Guevara-Poster und rote Fahnen im Saal eingriff, ging die Hamburger Uraufführung nach kurzer Zeit in Ho-Chi-Minh-Rufen unter. Auch der Komponist beteiligte sich daran. Gesendet wurde dann ein Mitschnitt der Generalprobe.

In Berlin 2023 bleiben politische Bekundungen aus, obwohl es eine heikle Sache ist, einer symbolhaften Schiffbruchsgeschichte in Zeiten des großen Sterbens im Mittelmeer eine große Bühne zu bereiten. Aber die Balance glückt auch deswegen, weil Kratzer tagesaktuelle Anspielungen vermeidet. Die ChoristInnen, weit davon entfernt, Flüchtlinge zu mimen, tragen normale, schicke Konzertkleidung, stürzen sich also quasi als sie selbst ins Wasser. Am Ende werden sich alle ordentlich nass gemacht haben, denn es geht in dieser Geschichte, an diesem Abend, um uns alle. Wer will, kann von dieser Einsicht aus noch weiterdenken.

Auch sonst stimmt alles. Großartig Gloria Rehm in der stimmlich extremen, verführerischen Sopranrolle des Todes, ebenso überzeugend Günter Papendell als ihr menschlicher Gegenpart. Das Riesenorchester unter Titus Engel, die Chöre: alles toll. Wie die Gestorbenen singend ins Publikum entschwinden: gänsehautheischend. Und doch ist es so: Für die Musik hätte man oft gern mehr ungeteilte Aufmerksamkeit übrig gehabt, aber es gibt so viel zu gucken. Henzes Musik ist erstaunlich gut gealtert, was auch daran liegt, dass er das serielle Kompositionsprinzip – dem Werk liegt unter anderem eine Zwölftonreihe zugrunde – eher als Spielanordnung begriff, nicht als Formkorsett. Im Zweifel siegt das Primat des unmittelbar Expressiven über die selbst gesetzten Regeln der Avantgarde von einst. Übrigens hätte man statt der vielen bunten Probenfotos sehr gern noch etwas mehr von Ernst Schnabels eindrucksvollem Libretto im Programmheft abdrucken können.