Glänzend wie Hundeklöten

Vollgas-Schreitheater mit lustigen kleinen Schnörkeln: Lorenz Nolting inszeniert in Osnabrück den ernüchternden Erfolgsroman „Andere Leute“ von Dorota Masłowska

Kaum zu haltendes Energielevel: Anetta (Rebekka Biener) und Kamil (Hans Christian Hegewald) Foto: Uwe Lewandowski

Von Jens Fischer

Das Elend eines sinnleeren, perspektivlosen, von Einsamkeit, Enttäuschungen, Dünkeln, Feindbildern und verwahrlosendem Lebenshunger gekennzeichneten Daseins – ist das zum Verzweifeln tragisch, zum Mitleiden melancholisch, macht es sozialrealistisch betroffen oder weiß es vielmehr schwarzhumorig-lustig zu unterhalten? So wie Dorota Masłowska im Jahr 2018 „Andere Leute“ beschrieb, konkret jene in Warschau, verweist sie auf ein allgemeineres aktuelles Phänomen: Am unteren wie auch am oberen Ende der Einkommenspyramide sucht eine demokratiemüde Gesellschaft mit Drogen, Konsum oder Sex nach Zerstreuung und Betäubung, ohne dass sich aber noch Glücksgefühle einstellen.

Hochgelobt wurde Mas­łowskas Roman, der sprachbildmächtig den rauen Jargon der Abgehängten zu einer poetischen Kunstsprache frisierte, die wirklich verzweifelt schön klingt: „Weit draußen glänzt Warschau wie Hundeklöten“, lesen wir. „Er konnte endlos zuschauen, wie die Plasmabildschirme in den Hochhausfenstern rhythmisch Lichtblitze abschießen. Konnte die kleinen menschlichen Dinger sehen, eins über das andere gestopft wie in einem Schrank, die Orgasmen einer Mieze gegen den Typen, der erfolglos gegen den Krebs ankämpft, das Panorama des Lebens, 21. Jahrhundert, 3-D-Brillen und immer noch trennt nur eine Rigipswand das Waschen vom Sterben, vom Husten das Vögeln.“ Für seine Adaption, die deutschsprachige Erstaufführung, setzt Regisseur Lorenz Nolting in Osnabrück auf eine eindeutige Sichtweise und Komik, bis ins Groteske gesteigert.

Der Bühnenboden ist ein ironischer Blumenwieseteppich. Dazu trägt das vierköpfige Kampfsportlerteam des Alltags lässige Boxertraining-Outfits und agiert wie eine gute Fußballmannschaft; wartet also nicht ab, um in Ruhe die eigene Spielweise aufbauen zu können, sondern geht sofort in die Offensive. Gesprochen wird, als müsste auch Reihe 14 im 3. Rang noch jedes Wort verstehen, also lautstark. Gespielt wird „Andere Leute“ aber nur im kleinen Emma-Theater, wo es nur sieben Sitzreihen gibt.

Dort tummeln sich nun der Gelegenheitsdealer und rotzige Rapper-Anwärter Kamil (Hans Christian Hegewald), die „Rossmann“-Verkäuferin und Möchtegern-Aufsteigerin Anetta (Rebekka Biener), der irgendwie reiche, fremdgehgeile Manager Maciej (Thomas Kienast)und seine ständig mit Auf- und Abputschmitteln bedröhnte, sich alleine daheim langweilende Frau Iwona (Jasmina Musić). Alle sind grenzenlos unzufrieden und gnadenlos selbstgerecht, deswegen passt der aggressive Dauerregungstonfall bestens.

Ja, dermaßen unter Druck steht dieses Quartett, dass manchmal auch alle durcheinanderreden. Wer gerade nicht spricht, hüpft, klettert, tobt herum. Zu erleben ist eine kollektive Wut-Zorn-Hass-Sexlust-Suada als Vollgas-Schreitheater mit lustigen kleinen Schnörkeln. Wenn zwei sich Worte entgegenschleudern, also kommunizieren wollen, führen sie auch mal ein paar Tanzschritte miteinander aus. Fällt das Stichwort Tauben, fangen alle an zu gurren. Und ist Maciej im Angeberauto unterwegs, rollt Darsteller Kienast mit einem Kettcar auf der kleinen Raumbühne herum.

Die Intensität ist so hoch, dass die wenigen ruhigen Augenblicke besonders wirkungsvoll sind

Der Vorteil dieses Regieansatzes: Die Intensität ist von Beginn so hoch, dass die wenigen ruhigen Augenblicke besonders wirkungsvoll sind; die, in denen mal ganz andere Gefühle ins Spiel kommen – etwa als Maciej seinem Kind hinterherschaut oder Iwona wirklich Nähe zu Kamil herstellen will. Oder das Ensemble wie wilde Tiere aufs Publikum zukriecht, bedrohlich daran erinnernd, dass die Dargestellten eben nicht nur die Anderen sind, sondern uns allen gefährlich nahe.

Der Nachteil dieses Ansatzes: Das unbändige Energielevel ist nicht 90 Minuten lang hoch zu halten. Wenn Anetta nach einem Streit aus dem Fenster stürzt, findet die Aufführung zu einem eindrücklich traurigen, wenn auch plakativen Schlussbild. Das Licht wird gedimmt, die Luft ist raus. Aber Nolting gibt keine Ruhe, beginnt neu mit dem Spiel und widerspricht seiner bisher mit bösem Witz über die – nicht mit den – lieblosen Figuren lachenden Inszenierung. Ein sensibel leiser Sehnsuchtsmonolog soll Sympathien einsammeln für Kamil, weil der allem Scheitern zum Trotz doch so innig hofft, morgen, im Morgenrot des Scheinwerferlichts endlich sein Innerstes nach außen zu reimen für sein Rap-Album. Da hat der Abend aber längst die Härte seines Antriebs verloren und die Vehemenz der Dringlichkeit. Alles in allem aber: begeisterter Applaus.

Nächste Vorstellungen: 14., 15., 17. + 21. 11., jeweils 19. 30 Uhr, Osnabrück, Emma-Theater