Räume zwischen Atem und Klang

Schauspieler Jens Harzer und Klarinettist Jörg Widmann verblüffen am Montagabend im Boulez-Saal mit Lyrik von Paul Celan und Musik in ungewöhnlichen Lautgestalten

Von Katharina Granzin

Das Publikum sieht anders aus. Schwer zu sagen, was „normales“ Konzertpublikum ausmacht, da anzunehmen ist, dass unter denjenigen, die am Montagabend in den Pierre-Boulez-Saal strömen, viele sind, die nicht in erster Linie der Musik wegen gekommen sind, sonder Jens Harzer Gedichte lesen hören wollen, wird darin der Unterschied liegen. Die ungewöhnliche Veranstaltung hat jedenfalls das Zeug, Kulturmenschen verschiedener Präferenzen anzuziehen. Harzer und der Klarinettist Jörg Widmann haben ein Programm zusammengestellt, in dem jeder das tut, was er kann, und in dessen Zentrum das Werk Paul Celans steht. Von der Frage danach, ob sich „neue Räume“ zwischen Lyrik und Musik auftun würden, sprechen die Künstler im Programmheft: „Uns war wichtig, dass jede Ebene ihren Raum behält, die Literatur und die Musik.“

Jens Harzer gehört der Raum auf seinem Stuhl, auf dem er verdreht sitzt und an dessen Gestänge er sich immer wieder festhält, um mit Hand- und Fußimpulsen den Rhythmus der Celan-Gedichte aus dem Körper zu holen. Er ist einer, der Texte von anderen so lesen kann, als würden sie ihm in diesem Moment selbst einfallen. Das hilft zwar nicht unbedingt dem umfassenden Verständnis (Celan allein vom Zuhören ganz zu „verstehen“, ist wohl nur wenigen gegeben), aber es ist zweifellos sehr schön. Und die Gedichte des Abends sind so sinnfällig thematisch gruppiert, dass sie sowohl miteinander als auch im Zusammenhang mit der umrahmenden Musik weite Assoziationsräume bilden. Was in den Köpfen der Zuhörenden passiert, ist dabei sicher so vielfältig wie die Menschheit an sich, manche Querverstrebungen mögen von der Auswahl aber sehr bewusst angelegt sein. Wenn sich nach Harzers Rezitation von Celans Landschaftsgedichten, worin das lyrische Ich etwa über eine endlos scheinende Heide wandert, Widmann an den Flügel setzt, um aus seiner eigenen Komposition „Idyll und Abgrund – Schubert-Reminiszenzen für Klavier“ zu spielen, so liegen Gedanken an die „Winterreise“ nicht nur deshalb nahe, weil man sich gerade erst durch Schneeregen zum Konzertsaal hatte kämpfen müssen.

Die Stimmungstöne, die in Celans Lyrik angeschlagen werden, sind ungemein vielfältig – hier dunkel und enigmatisch, dort mystisch raunend, dann zärtlich und sinnlich. Doch in ihrer lautlichen Gestalt müssen sie durch das Medium der Sprache. In der Musik ist es sozusagen umgekehrt. Das Spektrum klanglicher Ausdrucksformen, das Jörg Widmann präsentiert, ist unglaublich weit, was keineswegs nur daran liegt, dass er mit zwei verschiedenen Instrumenten präsent ist. Sein virtuoses Klarinettenspiel treibt er in Mark Andres „Atemwind“ (das er gemeinsam mit dem Kollegen entwickelt hat) an die Grenzen. Während alle anderen musikalischen Beiträge eher als kurze Einwürfe zwischen der Lyrik fungieren, beansprucht „Atemwind“ viel Raum, sowohl zeitlich als auch im Wortsinn. Auf zehn Notenständern steht die Musik, die Widmann reihum im Saal abschreitet, während die Klarinette unorthodox klingt. Andres Komposition basiert auf den lautlichen Randbereichen des Instruments, arbeitet mit dem Klang des Luftstroms, bezieht sogar perkussive Qualitäten der Klappen ein. Sie beweist vor allem, dass es möglich ist, auf der Klarinette mehrstimmig zu spielen und Obertöne gezielt einzusetzen. Das Ganze klingt so, als habe ein Luftgeist sich eine Flöte aus hohlen Zweigen gebaut und erfinde die Musik neu. Danach folgen, als letzter Lyrik-Beitrag des Abends, Gedichte zum Assoziationsraum „Psychiatrie – Wahn – Unlesbarkeit“. Und dennoch tritt man seltsam erhoben hinaus ins unablässige Schneetreiben.