berliner szenen
: Zu spät bis spät wie jedes Jahr

Alle Jahre wieder schnappte ich mein Gepäck und machte mich auf den Weg zum Südkreuz, um mit dem Zug home for christmas zu driven. Wie fast immer, wenn ich mit dem Zug irgendwo hinfahren möchte, war ich spät dran. Da kann ich noch so früh den Wecker stellen – mein Talent fürs Spätdransein ist größer. Als ich also vollgepackt die Haustreppe nach unten eilte, erinnerte ich mich an meinen größten Fauxpas. Da wollte ich auch meine Eltern besuchen, allerdings hatte ich wenige Tage zuvor meinen Geldbeutel auf dem Weg zu einem Konzert (Foxygen) im Rosi’s verloren. Oder er wurde mir in der Schlange vor dem Rosi’s geklaut, ich wusste es nicht. Auf jeden Fall waren alle meine Karten weg und Bargeld hatte ich auch keins. Aber meine Mutter war so nett gewesen, mir ein Bahnticket zu kaufen und es mir per Mail zu schicken. Das half aber nicht, weil ich es in diesem vermaledeiten Zustand noch schaffte, den Zug um wenige Minuten zu verpassen – ich hatte verpennt und die U-Bahn hatte eine Störung. Geld für ein Taxi hatte ich ja auch nicht. Und Geld für ein neues Zugticket ebenso wenig, also stieg ich einfach mit meinem verbindlichen Super-Sparpreis-Ticket in den nächsten Zug, der mich nach Hause bringen sollte. Als der Schaffner kam, drückte ich auf die Tränendrüse, erzählte ihm schluchzend von meinem Dilemma und er ließ mich nach einigen Verhandlungen und mitleidigen Blicken der Mitreisenden weiterfahren.

Jetzt, Ende 2023, war ich zwar nicht mehr die verpeilte, feierwütige Mittzwanzigerin, aber ich war trotzdem spät dran. Als ich an der Bushaltestelle angekommen war, waren es noch zwanzig Minuten, bis mein Zug vom Südkreuz losfahren würde. Aber: Ich hatte einen Geldbeutel. Den hatte ich zum Glück noch in letzter Sekunde aus meiner anderen Bauchtasche gefischt.

Eva Müller-Foell