Figur aus Fleisch

Lisz Hirn sucht in ihrem Essay „Der überschätzte Mensch“ nach einem neuen allgemeingültigen Humanismus

Von Katharina Granzin

Der Mensch sei „eine lebendige Figur aus Fleisch“, zitiert Lisz Hirn zu Beginn ihres Buches ein vierjähriges Mädchen. In welchem Kontext das Kind diese Definition geprägt hat, wird nicht erwähnt, aber zweifellos hat es einen weitaus rationaleren, unsentimentaleren Blick auf den Kern des menschlichen Daseins als vermutlich die meisten von uns.Lange Zeit, schreibt die Autorin, habe der Mensch sich selbst überbewertet, sich irgendwo zwischen „Tier“ und „Übermensch“ auf einer hierarchischen Skala weit über dem „Tier“ eingeordnet und diesen erhöhten Platz als selbstverständlich empfunden. Eine der wichtigsten Aufgaben der abendländischen Philosophie sei es stets gewesen, die „Abgrenzung zwischen ‚Tier‘ und ‚Mensch‘“ aufrechtzuerhalten. Die Gewissheit über diese Grenze aber ist heutzutage keineswegs mehr so felsenfest. Dazu kommt eine, nach einem Begriff von Günther Anders, „prometheische Scham“, da die Maschinen, die wir erschaffen haben, in wesentlichen Bereichen längst mehr können als wir selbst.

Was also ist der heutige Mensch, der auf der einen Seite die eigene Tierhaftigkeit allmählich anzuerkennen beginnt und gleichzeitig damit hadert, nur eine fleischliche Intelligenz zu sein? Welches Bild machen wir uns von uns selbst, und wie gehen wir mit unserer Verletzlichkeit und Sterblichkeit um?

Lisz Hirn: „Der überschätzte Mensch. Anthropologie der Verletzlichkeit“. Zsolnay Verlag, Wien 2023, 128 Seiten, 20 Euro

Lisz Hirn versucht in ihrem Langessay, diese und verwandte Fragen genauer zu fassen. Vier übergeordnete Begriffe – „Essen“, „Sterben“, „Werden“ und „Handeln“ – dienen ihr als Sinn-Anker und ordnen den Text in Kapitel. Meist lässt sich gut folgen, auch wenn in der äußeren Form nicht immer sehr deutlich wird, wohin und womit. Zitate werden meist eher unelegant in den Textfluss eingeworfen und oft verschwimmt, aus welcher Quelle welche Gedanken paraphrasiert werden.

Nahrungstabus, Todesrituale, der Wert von Arbeit und Gesundheit sowie unsere schicksalhafte Erdgebundenheit gehören zu den Themen, die den Menschen in seinem Dasein bestimmen. Da die Auffassung des Menschen als Krone der Schöpfung, als „Tier, das nicht von anderen Tieren gegessen wird“ überholt ist, brauche es „eine neue Anthropologie, die sich […]in unserer Verletzlichkeit verortet“. Dazu gehört es, uns radikaler als Teil der Welt zu begreifen und nicht die Welt als etwas außerhalb unserer selbst, das, legitimiert durch das biblische „Macht euch die Erde untertan“, zu unserem unendlichen Gebrauch vorhanden ist. Allein der Begriff „Umwelt“ zeige „die immer noch unglaubliche Anthropozentriertheit des angeblich aufgeklärten Menschen“. Der Begriff „Umweltschutz“ wiederum sei offenkundig absurd, denn „wen würden wir damit eigentlich schützen, wenn nicht uns selbst“?

Auch braucht der verletzliche Mensch Schutz vor den Maschinen

Auch auf anderem Gebiet braucht der verletzliche Mensch Schutz: vor den Maschinen. Dabei gelte es zum einen zu erkennen, „was das menschliche Tier der Maschine überlegen macht“. Zum anderen müssten wir unser Verhältnis zur Arbeit komplett überdenken. Das ist sicher richtig, aber gerade im Kapitel „Handeln“, dem letzten, geht es weniger um das menschliche Handeln in seinen vielfältigen Ausformungen als vielmehr fast ausschließlich um das Mensch-Maschine-Verhältnis, was dann auch noch auf argumentative Seitenwege führt. Auch den Transhumanismus verhandelt Hirn in diesem Rahmen, wenngleich dieses Nischenthema eigentlich besser im „Sterben“-Kapitel aufgehoben gewesen wäre.

Aber trotz einer gewissen, vielleicht auch nur subjektiv so gefühlten, Beliebigkeit beim Themenhopping ist die generelle Zielrichtung der Autorin klar: Sie nennt es „Anthropologie“, aber es ist eigentlich ein neuer universeller Humanismus, den sie sucht. Von Wokeness hält Hirn nicht viel: „So sehr sich das Besondere als das Grundlegende des Politischen manifestiert, so sehr verschwindet dahinter das Allgemeine, das, was wir im Angesicht unserer verletzlichen Körperlichkeit teilen.“