Konservativ mit Augenmaß

Was Linke von dem CDU-Mann lernen können

Von Jan Feddersen

Was genau das sein soll, „konservativ“, hätte Wolfgang Schäuble auch nicht in mathematischer Präzision sagen können. Die CDU, seine politische Heimat, sei eine Partei, die sich aus christlichen, soziallehreartigen, liberalen und auch wertkonservativen Gehalten speise – und aus den Lehren der nationalsozialistischen Verhältnisse geboren worden sei. Eine politische Formation, die Maß und Mitte, jedenfalls keine „Übertreibung“ zu vertreten habe. Die Union, so der seine Partei viele Jahrzehnte mitprägende Politiker, habe den Fortschritt, das Andere, das Neue zu moderieren, nicht das Moderne anzustoßen. Er selbst entstammt besten bürgerlichen Verhältnissen aus Freiburg, Breisgau, hineingewachsen in eine Familie honoratiorenhafter Bürgerlichkeit, fern aller Armut in welcher Hinsicht auch immer, in eine politische Sphäre beruflicher Wege, die auf Aufstieg orientiert sind, auf gediegene Karrieren, die nicht auf Volkstribunalität setzten, auf Charisma und politische Egozentrik.

Sondern auf das, was karikaturesk am Baden-Württembergischen gern als „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ verstanden wird. Solide Architekturen in jeder Hinsicht, familiär und politisch. Nicht umsonst verstand sich dieser Politiker, sei es gegenüber den früheren Bundeskanzlern Helmut Kohl als auch Angela Merkel, als „loyal“, was nicht als Untertänigkeit missverstanden werden durfte. Schäuble galt in seinem Milieu schon fast als gelegentlich charakterlicher Grenzfall, weil er – der unbedingten Ehrgeiz, intellektuell wie politisch, von seinen Umfeldern verlangte – scharf und schroff werden konnte, wenn da einer nicht auf der Höhe des (beispielsweise: intellektuell) Verlangten sich bewegte.

Er war Demokrat durch und durch. Ein bundesdeutscher Demokrat, der kaum mehr fürchtete als das, was aktuell politisch die Sache ist und bleibt: eine Partei wie die AfD, die wesentlich im Trüben des rechten Bevölkerungsspektrums fischte, deren Ressentiments, Vorstellungen und Fantasien noch bis weit in die nuller Jahre von der Union (geringer, aber doch auch von der SPD) programmatisch und politisch mit bewirtschaftet wurde. Schäuble hatte diesen Rechtspopulismus immer für integrierbar gehalten in die, wie man über die Empirien der Soziologen Steffen Mau und Thomas Biebricher weiß, vier Fünftel des bundesdeutschen Mainstreams, der für extremistischen Schutt nichts übrig hat.

Schäuble, so musste man ihn verstehen, hielt den Aufstieg der AfD auch (nicht nur) für ein Resultat der asymmetrischen Wahlkämpfe seiner Partei unter Kanzlerin Merkel, auf ihre diskursiv für unnötig gehaltene Erregung im Stile von „Sie kennen mich“!

Schäuble mochte Disput, er schätzte den Streit, ob mit den Sozialdemokraten oder den Grünen, weil er demokratiefördernd ist, weil er Standpunkte klärt und eben politische Atmosphären klärt. Er ließ sich auch gern, beispielsweise, zum taz-Kongress einladen, 2009, als er auf dem Podium mit Jürgen Trittin unter anderem zu den ersten schwarz-grünen Koalitionsüberlegungen ausbrachte, am liebsten alliiere seine Union in einer Koalition mit sich selbst – da gäbe es genug Stoff im Dissens. Was auffiel: wie umgänglich Wolfgang Schäuble war, wie sehr er darauf achtete, dass die Helfenden, die ihn, den im Rollstuhl sich Bewegenden, auf jede Unebenheit hinwiesen, von ihm mit mehr als jovialer, mit größter Herzlichkeit behandelt wurden. „Seien Sie vorsichtig“, rief er den Leuten vom Sicherheitsdienst zu, „der Boden kann uneben sein!“

Mit größter Freude sprach er über Parlamentarier, die sich nicht als Abgestellte ihrer Parteien empfanden, sondern als solitäre Akteure etwa auf den Positionen des Bundestagspräsidiums saßen. Petra Pau fand er mehr als respektabel, sowieso Antje Vollmer, deren Partei, die Grünen, ohnehin. Kein „Wunschpartner“, so äußerte der Unionsmann immer wieder, aber eine Partei, mit der sich Politik machen ließ. Sozialdemokraten gehörten für ihn selbstverständlich zum verfassungspatriotischen Setting, Feindschaftliches war ihm politisch fremd – es ging ihm darum, im politischen Gegner zu erkennen, was ihn erfolgreich macht.

Er wird fehlen, zumal und im Konkreten besonders, wenn im kommenden Herbst in Thüringen nur eine Koalition aus Linkspartei und Union möglich wäre, um sich dem Gift der AfD zu entziehen: Er hätte vermitteln können, dass Bodo Ramelow ein reschpektabler Mann sei – und seine Partei zwar nicht die Union sei, aber doch demokratisch, also stubenrein.

Im Übrigen diskutierte er nicht darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht. An Tatsachen lasse sich nicht deuteln, so sein Credo. Rassismus, diese kleine Münze von Engstirnigen, war ihm, ausweislich aller getätigten Äußerungen, fremd. Konservative könnten die Welt nicht anhalten, aber sie können verständlich machen, wie ein gemeinsames Leben in Änderung mit „Augenmaß“ ­gehen könnte.

Von ihm konnten Linke lernen, politisch bei sich zu bleiben, also dem Denken in Freund-Feind-Schemata zu entkommen, aber auf das Eigene zu beharren, um so erst Politik, linkerseits immer mit dem Anspruch, die Verhältnisse mehr als nur in Maß und Mitte zu halten, zu ermöglichen.