Wirkungsloses Plaudertheater

Was bietet Virginia Woolfs Geschlechtswandler:in „Orlando“ nicht alles an diskursiven Möglichkeiten – aus denen Regisseur Jossi Wieler nun in Hamburg herzlich wenig macht

Fünf Frauen spielen eine:n Dichter:in: Bettina Stucky, Linn Reusse, Julia Wieninger, Hildegard Schmahl und Sandra Gerling (v. l.) in/als „Orlando“ Foto: Matthias Horn

Von Jens Fischer

Was für ein Formulierungszauber, Gedankenfunkeln, Freiheitsstreben. Welch brillant satirische Kritik an Konventionen, patriarchaler Macht und Bigotterie der englischen Gesellschaft. Und schließlich: Was für eine barock-hedonistische Reise durch die Partys und Lotterbetten des 16. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Was für ein Fest der Liebe, Lust und Ironie also ist Virginia Woolfs fiktive Dichter:innen-Biografie „Orlando“. Und welch prachtvolle Auflösung der Mann-Frau-Dichotomie gelingt ihr mit dieser das Geschlecht wandelnden Hauptfigur! Was hat es mit dem Stoff nicht schon für ­poesietrunkene Produktionen gegeben als fantasievollen Reflex auf aktuelle identitätspolitische Debatten!

Jetzt feierte Jossi Wielers Regiearbeit in Hamburg Premiere. Durchaus PR-affin, hat das Deutsche Schauspielhaus diesbezüglich auf einen 30 Jahre alten Inszenierungstriumph Wielers mit Elfriede Jelineks „Wolken.Heim“ im Malersaal hingewiesen: Ein neo-rechtes „Wir“ auf der Suche nach deutscher Identität komponierte er dort doch höchst musikalisch als sechsstimmigen Frauenchor. Jelineks kreuz und quer verknotete Suada machte dieser Dreh sinnlich, lebendig, komisch und verständlich.

Jetzt holt Wieler ein generationenübergreifendes Frauenquintett auf die Bühne. Alle haben eine eigene Diktion erarbeitet: Fatalistisch-philosophisch ist die von Hildegard Schmahl, düster todesverliebt gibt sich Julia Wieninger, ironisch keck kommt Bettina Stucky daher, leidend und sachlich spricht Sandra Gerling und jugendfrisch neugierig wirkt Linn Reusse. Sie rücken einen Tisch und Stühle an die Rampe, süffeln Whiskey und beginnen zu fabulieren.

Dass es sich dabei um fünf Aspekte von Orlandos Charakter handelt, vermittelt sich in keinster Weise – weil nie „Orlando“ gespielt wird. Die Sprecherinnen sind eher fünf Virginia Woolfs, gerade eine Geschichte ersinnend, ein kollektives Autorinnenteam sozusagen. Jede Rednerin setzt die Sätze der vorherigen fort, auch mal dezent unterbrochen durch Dramaturg:innen-Fragen – „Müssen wir Orlando tadeln?“ – oder Erklärungen. Im Grunde wird hier die Zusammenfassung des Romans dargeboten als edel artikuliertes Erzähltheater: Alles bleibt in der Sprache.

Einzig bei der Verwandlung des Edelmanns zur Edelfrau wird mal eben das Licht gedimmt und ein wallender Musikakzent gesetzt, die Frauen ziehen sich ihr Kleid aus und eine Hose an oder einen Reifrock drüber und üben ein neues Rollenverhalten ein, das die Gesellschaft nun von ihnen erwartet. Während Wieninger den schlabberigen Bademantel abstreift und mit ihrem jetzt deutlich weiblich zu lesenden Körper kokettiert, konterkariert sie die Wirkung mit machomäßig verschränkten Armhaltungen. Szenisch ist das geradezu eine Sensation – weil sonst halt nix passiert außer vielleicht entschleunigter Arbeit an Karin Bracks Bühnenbild.

Der Abend will genossen werden als melancholisches Nachdenken über Grundsätzliches

Auf der Drehbühne rotiert ein zentrales Motiv der Vorlage: „The oak tree“; Rücken der Welt, Mutter Natur sind so Stichworte dazu. Bei Woolf ist es das Opus magnum Orlandos, dessen Schreibstil sich während der Raum-und-Zeit-Reisen ändert, aber gerade deswegen derselbe bleibt. So wie Orlando zu Orlanda wird, aber lediglich äußerlich neu designt ist, innerlich aber im steten Wandel identisch. Regisseur Wieler sieht das wohl durch die Existenzialistenbrille: Bei ihm ist die Eiche gefällt und entwurzelt – wie der moderne Mensch?

Der Bühnenbildbaum verändert sich ständig, denn Lars Rudolph schraubt neue Äste dran, Sachiko Hara klebt Moose auf den Stamm. Bis sich Nebel stimmungsmächtig im Grün verfängt, ein Sturm aufzieht und den Baum zerlegt. „Was das Leben ist“, wird geraunt, „wissen wir nicht.“ Nun gibt Reusse tatsächlich noch mal kurz die Orlanda, stürmt auf Gerling zu, die den Kapitän Marmaduke Bonthrop Shelmerdine spielt. Zwei Menschen, die sich sehen, sofort spüren und verstehen – ach, die Liebe. Einziger Ausweg aus der universellen Verlorenheit? Das wäre ein Interpretationsversuch, da der Abend wohl gern für melancholisches Nachdenken über Grundsätzliches genossen werden will. Als Oper, die mit Musik und Gesang die Leere füllt, würde das vielleicht funktionieren. Als leises Plaudertheater verhallt „Orlando“ wirkungslos.

Nächste Vorstellungen: 4., 10. und 28. 2., Hamburg, Deutsches Schauspielhaus