Thalia zeigt Bergman mal in einer Plattversion

Ohne die changierenden Grautöne des Filmklassikers hat Matthias Andersson „Schande“ am Thalia Theater ins Hier und Heute übertragen: überdeutlich und weitgehend spannungsfrei

Von Jens Fischer

Auch fast 60 Jahre später und auf der Bühne des Thalia Theaters Hamburg, statt auf der Leinwand ist es die gleiche Geschichte: Ein Musikerpaar flieht aufs Land, ans Meer und versucht sich in zweisamer Idylle mit Kunst, Liebe und ein bisschen Gärtnerei narzisstisch zu räkeln. Aber ein immer näher rückender Krieg macht die schicke Langeweile des eitlen Aussteigertums unmöglich. Was dann passiert im Film „Skammen“, also „Schande“, war auch 1968 keine Überraschung für Fans von Ingmar Bergman.

Eine Ehe wird in ihre Bestandteile zerlegt in zwei inkompatible Ichlinge. An diesem Bergman-Topos hat auch Regisseur und Autor Mattias Andersson, Intendant des Stockholmer „Dramaten“, nichts geändert bei seinem Versuch, das Drehbuch ins Hier und Heute zu übertragen. Dabei betont er die Besonderheit des Stoffs. Die Protagonisten scheitern eben nicht nur aus sich selbst heraus, sondern die zunehmend auf sie eindringende Brutalität undurchsichtiger Kräfte der sozialen Wirklichkeit wirkt wie ein Katalysator, die abgründigen Aspekte der Persönlichkeiten und verdrängte Konflikte ans Tageslicht zu bringen.

Ulla Kassius stattet die offene Bühne wie die Musterwohnung eines schwedischen Möbelhauses aus, also ohne Wände, weil die stilvolle Gemütlichkeit eben ungeschützt ist und das Kammerdrama sich zur Umwelt öffnet. Jirka Zetts Jan gibt dabei den schlurfigen Loser, Maja Schönes Eva ist die tatkräftige Macherin.

Der Abend startet als klassisch knatschiger Beziehungsclinch mit gegenseitigen Vorwürfen. Ohne die intensivierende Kadrierung, also die Wahl des Bildausschnitts, und die endlos changierenden Grautöne der Aufnahmen von Bergmans Leibkameramann Sven Nykvist plätschert das allerdings in alltagsöder Beiläufigkeit recht spannungslos dahin.

Alarmsirenen stören dann die Szenen auch dieser Ehe und Anderssons Hang zur Überdeutlichkeit setzt ein erstes Zeichen: Jan bekommt einen Wein-, Eva einen Wutanfall ob seiner Untätigkeit im Klima wachsender Ungewissheit. Ein Kuss kittet notdürftig die Zerrissenheit.

Nächste Störung: Nachbar Jacobi (Bernd Grawert) schaut im Nahkampfkostüm vorbei, behauptet mit diabolischem Understatement seine Macht über eine Art Bürgerwehr, die gegen einen nur aus dem Off mit Verhören aufwartenden „Feind“ kämpft. Ihn begleiten Hoodie-Jugendliche mit Schlabberhosen und lümmeliger Coolness. Fragwürdig, dieses Feindbild des saturierten Bürgertums als Angstmacher einzusetzen. Sie agieren in der ersten Szene noch mit seinem Basketball, später dann mit Waffen und roher Gewalt.

Unerwünscht deutlich gewinnt der Filmstoff derzeit schonungslose Aktualität. Das Geschehen könnte in der Ukraine, in Syrien, Israel, Gaza oder Kongo angesiedelt werden, wo Menschen mit der militärischen Mordmaschinerie konfrontiert werden. Aber Andersson konkretisiert wie Bergman nichts, bleibt im Grundsätzlichen. Gibt den Darstellern aber auch wenig Raum, sich die Rollen in aller Freiheit differenziert zu erspielen.

Jan und Eva müssen die Beziehungskiller-Kontroverse schlechthin intonieren: Sie will ein Kind, er nicht. Es wird geheult, gewütet und zu bedeutungsvoll wabernder Musik ins Bett gestiegen. Nebel wallt als Unheilbote.

Schon verlangen die sogenannten Invasoren ein Statement, auf welcher Seite die Gleichgültigen stehen. Beide versuchen sich rauszureden, sie seien „just musicians“. Aber zumindest ihren Friedenswunsch sollen sie artikulieren. Eva spricht ihn gequält in eine Kamera, Jan verkriecht sich in seine Weinerlichkeit. Aber eine Auseinandersetzung mit der Frage, was zivilisierte Lebewesen in ihrer Furcht um Leib und Leben zu tun bereit sind, ist das nicht. Es folgt nur eine überdeutlich panische Sexnummer. Dann Kriegslärm, der vollends aggressiv macht, Eva schreit, Jan rennt mit einem Messer auf sie zu.

Statt zur Auseinandersetzung mit der Frage, was Menschen in Todesangst zu tun bereit sind, kommt’s nur zu einer panischen Sexnummer

Nicht entspannter wird die Situation, als Evas Video-Statement viral geht, weswegen das Paar nun von Jacobis Leuten für Kollaborateure gehalten wird. Der sorgt dafür, dass sie verschont werden und verlangt als Gegenleistung Sex. Eva verdreht nur kurz Augen und Kopf und legt sich dann entgeisternd zielstrebig ins Bett, wird alles zulassen.

Besiegelt wird so jedenfalls das Ende der Geschichte von Jan und Eva. Als die Invasoren schließlich Jacobi festsetzen und anklagen, rächt Jan sich eiskalt an ihm für Evas Ehebruch. Da er so seine charakterliche Niedertracht schon offenbart hat, setzt er noch einen drauf, als Andersson erneut überdeutlich wird. Ein Bootsflüchtling kommt vorbei, erbittet einen Lift zum Anleger – Jan nimmt ihm das Leben und Migrationsticket. Das Saallicht geht an und Eva hebt leidend zu einem alles erklärenden Schlussmonolog an.

In dieser sehr reduzierten, aalglatt beispielhaften Inszenierung baut Andersson mit radikalen Wechseln von laut-leise, hell-dunkel, böse-nett zwar tolle Effekte, aber kein Drama. Kein Beziehungs- und auch kein Kriegsdrama oder gar Menschheitsdrama. Nur Zeigefingertheater.

Niemand soll sich heraushalten, was um einen herum passiert, niemand kann der persönlichen Verantwortung entfliehen, jeder muss sich positionieren und dazu stehen. Jeder sollte ein richtiges Leben im falschen versuchen. So könnte die Moral von der Geschicht’ beschrieben werden. Der Fokus liegt auf individuellen Werten und Entscheidungen. Das ist natürlich alles richtig, aber so belehrend vorgeführt eher weniger wirkungsvoll als in Bergmans poetischer Verdichtung.

Schauspiel „Schande“, Thalia Theater, Hamburg, wieder am 19. und 20. 2., 9. und 11. 3. sowie 10. 4. stets um 20 Uhr