Raketenhagel auf Kyjiw

Viele Wochen blieb die ukrainische Hauptstadt von der russischen Armee verschont. Nach einem massiven Raketenbeschuss ist die Sorge groß, dass weitere Großangriffe folgen

Viele entsetzt aussehende Menschen versammeln sich in einer U-Bahn-Station

UkrainerInnen fliehen vor den russischen Luftangriffen in eine U-Bahn-Station Foto: Alina Smutko/reuters

Aus Kyjiw Bernhard Clasen

Es war der erste Luftangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kyjiw seit 44 Tagen. Zum ersten Mal donnerte es in der Nacht zu Donnerstag in Kyjiw morgens um 4.30 Uhr. Wieder und wieder – als wollte es nicht aufhören. In einer Intensität, die man von den vorangegangenen Angriffe in dieser Form nicht gekannt hatte. Wer gern bei geschlossenen Fenstern schläft, um Luftalarme und Einschläge nicht zu hören, hatte dieses Mal keine Chance. Die Erschütterungen waren in der ganzen Stadt zu spüren. Rund 25.000 Menschen hatten nach Angaben der Stadtverwaltung zuvor Schutz in U-Bahn-Stationen gesucht. Mit Marschflugkörpern, abgefeuert von TU-95MS-Flugzeugen und ballistischen Raketen hatte Russland in der Nacht Kyjiw angegriffen.

Alle Angriffsraketen, so berichtet das staatliche Portal suspilne.media unter Berufung auf das ukrainische Militär, seien von der Luftabwehr abgeschossen worden. Die Schäden seien durch den Absturz von Raketentrümmern entstanden. Dabei seien dreizehn Personen verletzt worden, vier – darunter ein elfjähriges Mädchen – mussten in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Auch Hochhäuser, Schulen und Kindergärten seien getroffen worden. Im Bezirk Podil sei ein Feuer in einer Umspannstation ausgebrochen, auf dem Dach eines unbewohnten zweistöckigen Hauses habe es gebrannt. In mehreren Häusern seien als Folge von Druckwellen Fensterscheiben zu Bruch gegangen, berichtet das Portal nv.ua. Wegen eines Brands in einer Wohnung musste eine Familie evakuiert werden. Insgesamt seien rund 40 kleinere Häuser, zwei Hochhäuser und ein Gymnasium beschädigt worden.

„Mir fehlen die Worte“

Kommentar auf dem Telegram-Kanal Trucha nach der russischen Attacke

Dass dieser Morgen anders werden würde, als bei einigen vorangegangenen Angriffen auf die Hauptstadt, war Telegram-NutzerInnen bereits um Mitternacht klar. Wenn mit Luftangriffen gerechnet wird, ist das soziale Medium Telegram für die meisten BewohnerInnen der Ukraine die wichtigste Informationsquelle. Hier erhält man minütlich neue Nachrichten über Raketen- und Drohnenangriffe, kann in Echtzeit erfahren, wo sich die Raketen gerade befinden und in welche Richtung sie fliegen. Und so saßen bereits nachts viele BewohnerInnen von Kyjiw vor ihren Bildschirmen und Smart­phones. „Achtung! 9 TU-95 sind vom Flugplatz Olenya im Gebiet Murmansk gestartet. Etwa um 3 Uhr werden sie die Landesgrenze erreichen. Wir halten Sie auf dem Laufenden“, lautete die erste Nachricht auf dem Telegram-Kanal der ukrainischen Luftwaffe um Mitternacht. Um 4:23 Uhr war klar, dass es sehr ernst wurde für Kyjiw. „Raketen im nördlichen Teil von Kyjiw, Kurs West/Südwest. Bitte alles in Deckung.“ Zwei Minuten später meldet der Telegram-Kanal Trucha den Abschuss von Raketen aus dem Kaspischen Meer.

Dann ging alles Schlag auf Schlag: Der Ankündigung auf Telegram folgten Minuten später die in der ganzen Stadt hörbaren Einschläge. Erst kurz nach 6 Uhr kam die Entwarnung. „Mir fehlen die Worte“, war der kurze Kommentar über den Telegram-Kanal Trucha um 7:30 Uhr unter einem Video, das brennende Gebäude und Autos in Kyjiw zeigte. Bereits am Mittwoch waren bei einem russischen Angriff auf Charkiw fünf Menschen ums Leben gekommen. Fünf weitere werden nach wie vor vermisst. Dies berichtete die ukrainische Nachrichtenagentur UNN unter Berufung auf Bürgermeister Ihor Terechow. Neun weitere seien verletzt worden. Auch im 80 Kilometer von Charkiw entfernten russischen Belgorod wird von Schäden und Opfern nach ukrainischen Luftangriffen in der Nacht zum Donnerstag berichtet. Zwei Frauen und ein Mann mussten wegen eines Schädelhirntraumas behandelt werden. In sechs Häusern seien rund 30 Wohnungen beschädigt worden, berichtete der Gouverneur des Gebiets Belgorod, Wja­tsche­slaw Gladkow, auf seinem Telegram-Kanal. Unterdessen fürchtet man in Kyjiw weitere russische Luftangriffe. In einem Interview mit RadioNV erklärte Alexey Getman, Veteran und Major der Reserve, dass es eigentlich nicht sehr viele Raketen gewesen seien, die Russland am Donnerstagmorgen auf die Ukraine abgefeuert habe. Und so könne es durchaus sein, dass dem Angriff vom Donnerstag morgen bald ein weiterer folgen werde, so Getman.