Eher reizvoll als relaxed

Regisseur Alessandro Schiattarella fragt in „Breaking Point“ im Staatstheater Hannover mit großem Mittelaufwand nach dem Sinn von Schönheitsstandards

Waghalsig: Gina Laskowski schwingt sich aufs Trapez, um der Norm zu entfliehen Foto: Kerstin Schomburg/Staatstheater Hannover

Von Jens Fischer

Als „relaxed performance“ ist die Uraufführung von „Breaking Point“ im Ballhof des Schauspiels Hannover ausgewiesen, um beispielsweise „Autist:innen, Menschen mit Tourette, mit Lernschwierigkeiten oder chronischen Schmerzen“ einen angenehmen Aufenthalt zu ermöglichen. Bühnen- und Zuschauerraum sind daher eins. Auf flauschig-weich schalldämpfendem Teppichbelag liegen Kissensäcke und -oasen bereit zum wohligen Hineinflezen, Lockern der Rückenmuskulatur und Ausstrecken arthritischer oder gelähmter Beine.

In Ratgebern heißt es, „relaxed performances“ sollten reizarm sein, Ruhe-Rückzugsorte anbieten und Türen geöffnet lassen, um niemanden zu verschrecken. Dem folgt dieser, von dem auf Inklusion spezialisierten Tänzer und Choreografen Alessandro Schiattarella und dem Ensemble entwickelte Abend allerdings nicht. Die Türen werden geschlossen und das Lichtdesign changiert zwischen richtig dunkel, angenehm gedimmt und grellhellen Effekten, für die es Schutzkappen gibt. Ungeschützt kommen gleichzeitig Live-Video, Schauspiel, Musik und Bewegungskunst zum Einsatz, Nebel schwebt herab, auch auf Interaktion mit dem Publikum wird nicht verzichtet.

Aber all diese sensorischen, sozialen wie auch inszenatorischen Reize sind online kommuniziert, Zu­schaue­r:in­nen also informiert, worauf sie sich einlassen. Im Gegensatz zu dieser Besucherfreundlichkeit beschäftigt sich die Produktion mit Ableismus, der Behindertenfeindlichkeit.

Programmatisch relaxed kommt der Prolog daher. Opernsängerin Carmen Fuggiss, die Schauspielerinnen Alrun Hofert und Helene Krüger, Tanzperformerin Victoria Antonova und Akrobatin Gina Laskows­ki stellen sich vor. Auch als Hilfe für Sehbehinderte beschreiben sie ihren Körper, die Frisur, das Overall-Kostüm und was sie später so tragen werden. Fuggiss greift mit einem Lied über den Nussknackerkönig etwas vor. Schon echauffiert sich das Frauenquintett, warum das Thema des Abends anhand E. T. A. Hoffmanns Märchen „Nussknacker und Mausekönig“ beispielhaft aufzudröseln sei. In der dargebotenen Nacherzählung steht Pirlipat im Zentrum, von Beruf Prinzessin, also „engelgleich“ ihr Aussehen.

Die rachsüchtige Frau Mauserink infiziert sie mit Hässlichkeitsgift. Nun muss als Gegenmittel eine harte, goldene Nuss von einem unschuldigen Jüngling geknackt werden. Gegen die Rückkehr zum Superschön-Klischee, also die Idee von einem idealen Körper, erwacht Widerstand auf der Bühne.

Gina Laskowski schwingt sich aufs Trapez und berichtet bei waghalsigen Verdrehungen, Kopfüberhaltungen und Spagaten von ihrem Kampf mit den Eltern. Die nannten sie Pirlipatchen und verlangten eine entsprechend prinzessinnenhafte Art des Gehens, was Laskowski aber weder konnte noch wollte. Der erste Schritt zur Normverweigerung ist getan: sich selbst anzunehmen.

Ebenso beeindruckend gibt Hofert eine Episode ihrer Kindheit preis: Sie wollte auf die Ballettschule, die Mutter verhinderte das, wohl um sie zu schützen vor möglichem Mobbing aufgrund ihres nicht Ballerina-perfekten Körpers. Die Schauspielerin tanzt bei ihrem Monolog mit dem Schatten einer vollkommenen Gestalt – und zertritt diese. „Ich steige aus dieser Geschichte aus. Ich will nicht so sein. Ich bin ich.“

Diese zwei Szenen sind die Höhepunkte des Abends, weil sich authentische Aussagen und künstlerisches Spiel, Empathie und Ästhetik gegenseitig bereichern. So verleihen sie den Möglichkeiten, idealisierten Körperbildern nicht zu entsprechen, besonderen Nachdruck. Grundsätzlich funkelt die Frage: Was ist eigentlich Schönheit?

Schon werden Ventilatoren auf- und angestellt, um das ikonische Video aus dem Film „American Beauty“ zu zitieren, in dem eine Plastiktüte ständig neu zerknittert oder gebläht durch die Luft flattert und zu hören ist: „Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie kaum aushalten kann.“ Eine „relaxed performance“ in Vollendung.

Was „Breaking Point“ nicht gelingt. Alessandro Schiattarella prunkt mit zu vielen Theatermitteln, um sich aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung auf Sinn und Unsinn von Schönheitsstandards sowie das zwanghafte Streben danach zu fokussieren. Aber ein prima Anreger, sich damit mal tiefer gehend auseinanderzusetzen, ist die Produktion für Menschen ab 12 Jahren allemal.

Performance „Breaking Point“, Staatstheater Hannover, Ballhof Eins, wieder am 22. 3. und 10. 4., jeweils 19.30 Uhr, sowie am 11. 4., 11.30 Uhr