Uli Hannemann
Liebling der Massen
: Abgehängt

Auf halbem Wege nach Hause winkt in der Ferne eine mutmaßlich wildfremde Frau und schreit dabei irgendwas – wir beide auf dem Fahrrad. Ich schaue mich um, wem sie winken könnte, aber da ist niemand. Oh Schreck, die meint mich, denn nun ruft sie auch noch meinen Namen. Sie kennt mich, doch ich kenne sie nicht.

Für mich sind alle Menschen gleich – eine zutiefst philanthropische Einstellung, die leider allzu selten mit der verdienten Anerkennung vergolten wird.

Ich rufe zurück, „hallo“, deute, mit beiden Armen fuchtelnd, meine angebliche Eile sowie mein Bedauern darüber an, und rase los. Da sie offenbar denselben Weg hat, muss ich deutlich schneller sein, sonst stellt sie mich und kriegt raus, dass ich keine Ahnung habe, wer sie ist. An einer roten Ampel schlage ich wie ein Hase halsbrecherische Haken durch den vorfahrtberechtigten Verkehr, um meinen Vorsprung nicht nur nicht einzubüßen, sondern auch noch auszubauen.

So, rechts, links, rechts, links, abgehängt. Am Hermannplatz verschnaufe ich kurz und räsoniere: Wenn ich hier immerhin schon mein eigenes Leben riskiere, nur um nicht aufzufliegen, zu welchen Verbrechen wäre ich dann wohl fähig, um damit mein zwischenmenschliches Versagen zu kaschieren: zu einem Verdeckungsmord?

Würde ich also, geriete ich zum Beispiel auf der weiteren Flucht vor der unbekannten Bekannten in eine Sackgasse und verbärge mich daraufhin notdürftig in einem Hauseingang, während ich sie draußen, „Hallo, Uli“ rufend, unaufhaltsam näher kommen hörte, solchermaßen in die Ecke getrieben tatsächlich mit dem Mute der Verzweiflung jäh aus dem Versteck hervorspringen und sie mit bloßen Händen in einen tödlichen Kampf verstricken; sie oder ich, Wahrheit oder Pflicht? Wer von uns überlebt, ist zweitrangig, es dürfen bloß nicht beide sein. Und das alles nur, um nicht ignorant rüberzukommen, was ja eigentlich beweist, wie wichtig mir ein respektvolles Miteinander ist, auch wenn der Weg dahin im Moment etwas unorthodox erscheinen mag.

Aber das wird nicht nötig sein, aufgrund meines geglückten Entkommens. Oder doch? Denn in meinem Rücken sehe ich sie bereits wieder heranstrampeln. Oh Gott, wie kann das sein, wieso ist sie denn jetzt schon wieder fast direkt hinter mir, hat sie eine Abkürzung genommen?

Blitzschnell checke ich die Umstände. Für einen Mord wäre es hier viel zu belebt. Es wimmelt von potenziellen Zeugen, und darauf, dass die alle dichthalten, nur weil sie sich bestimmt auch schon mal in einer peinlichen Situation befunden haben, werde ich mich kaum verlassen können.

Jetzt gibt es nur noch eine Chance. Ich muss einen Herzanfall faken. Das ist mein Joker. Solange ich auf dem Asphalt röchelnd die Augen verdrehe, kann ich sie ja schlecht erkennen, das würde jede verstehen, und bald kommt hoffentlich der Rettungswagen und bringt mich in Sicherheit.

Und was mache ich dann in der Rettungsstelle? Springe ich einfach auf, ein Lazarus, dem man wie in „Pulp Fiction“ eine Adrenalinspritze ins Herz gejagt hat, schreie „danke, mir geht’s wieder gut, liebe Grüße!“ und hüpfe gazellengleich davon? Oder lasse ich mir erst mal einen Herzschrittmacher einbauen, um meine Story aufrechtzuerhalten?

Beides hätte Nachteile. Denn leider zocken sie einem meistens schon im Rettungswagen Ausweis und Gesundheitskarte. Ein anonymer Abgang wird dadurch unmöglich. Da Gesichtsblindheit keine anerkannte Diagnose ist, haben die für Patienten wie mich wahrscheinlich längst ein eigenes Kürzel: SSH, Sozialsimulant Herzanfall.

Und dann will die Krankenkasse den ganzen Einsatz von mir zurückerstattet haben.