Wenn Tiere die Menschen beschützen

Arbeiten ohne den üblichen Akademie-Hintergrund: Der Kunstverein Braunschweig zeigt mit Bärbel Lange eine Künstlerin „mit Beeinträchtigung“

Filigrane Scherenschnitte an der Wand: im zweiten Raum der Ausstellung Foto: Stefan Stark/Kunstverein Braunschweig

Von Bettina Maria Brosowsky

Wer entscheidet, was Kunst ist? Welche Qualifikation ist vonnöten, damit sich jemand Künstler oder Künstlerin nennen darf? Nur selten widmet sich der offizielle Betrieb in seinen Kunstvereinen, Museen und sonstigen Ausstellungshäusern dem Schaffen von Menschen, die jenseits einer zumeist akademischen Blase aus Kunsthochschulabschlüssen und Meisterklassen einfach nur Kunst machen wollen. Zu dieser Gruppe zählt Bärbel Lange, die im Kunstverein Braunschweig noch bis Anfang Juni einen umfangreichen Werksquerschnitt zeigt. Sie selbst bezeichnet sich als Künstlerin mit Beeinträchtigung. 1964 im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg geboren, hat Lange ihren Lebensmittelpunkt heute in Köln: Seit 2014 arbeitet sie dort, zusammen mit 23 weiteren Künstler:innen, in der Ateliergemeinschaft „Kat18“, einem Projekt der örtlichen „gemeinnützigen Werkstätten“.

Langes großes Thema sind Tiere: ihre Schutzbedürftigkeit etwa, wenn sie Nachwuchs haben. Vor allem aber eine individuelle symbolische Kraft, die sie jedem Tier zuspricht. Dabei differenziert sie in der gewählten Darstellung, meist in Abhängigkeit von den ungewöhnlichen Untergründen, die sie verwendet: Das kann ein 36 Meter langes Malervlies sein, ein Teppich oder auch Polstersessel und ein Lampenschirm.

Den ersten Raum des Kunstvereins füllen nun gelbe Sonnen mit Gesichtern, die Lange auf Papier gezeichnet hat. Sie werfen ihre optimistische Energie auf die Zeichnung einer langgestreckten Tiergruppe. Die Künstlerin erzählt, wie sie ein Stück weggeworfene, vollkommen intakte Auslegeware fand und umwidmete zum Malgrund: Die textile Oberseite wurde dick mit weißer Farbe eingestrichen, später wurden die Tiere – Elefanten, Bären, auch eine fliegende Ratte – auf die getrocknete, spröde Oberfläche gezeichnet. Dafür benutzt Lange meist nachfüllbare Textmarker oder ähnliche Filzstifte. Und in diesem Fall setzte sie, dem widerspenstigen Untergrund geschuldet, nur eine einfache Konturlinie ein.

Ihr Markenzeichen aber sind Doppellinien mit füllender Binnenzeichnung, oft aus Kreisen, im Zwischenraum. Diese zweifache Konturschicht legt sich wie eine dicke Haut oder ein Fell schützend und wärmend um das Innenleben, um die Seele, wie Lange sagt; oder auch um den ungeborenen Nachwuchs im Tiermutterleib.

Häufig schneidet Lange diese Tierkörper aus: Auf den blau gestrichenen Wänden im zweiten Raum hat sie etliche solcher filigranen Scherenschnitte zu einer großen Gruppe arrangiert. So entsteht ein ganz eigenwilliger Kosmos, fast eine mystisch-rituelle Beschwörung: Jedem Tier weiß Lange Eigenschaften zuzuschreiben, bei männlichen Adulten, außer den von ihr geschätzten Pinguinen, ist das häufig Aggression. Ihr Wissen hat Lange aus Zeitungen oder Tiersendungen im Fernsehen.

Die Tafel als Sinnbild des Zusammenseins: Bärbel Langes bemaltes Geschirr auf der Tisch­decke von Firat Tagal Foto: Stefan Stark/Kunstverein Braunschweig

Seitdem Jule Hillgärtner, nunmehr Ex-Direktorin, das im Jahr 2015 eingeführt hat, ist es üblich, dass ausgestellte Künst­le­r:in­nen einen Gastbeitrag mitbringen in den Kunstverein. In Langes Fall kommt er von Firat Tagal, Jahrgang 1997, ebenfalls im Großraum Köln lebend: Sie hat ein überlanges Tischtuch mit farbenfrohen, sehr reduziert dargestellten Tafelutensilien bemalt, und Lange selbst hat den so bereiteten Tisch mit Geschirr eingedeckt, das sie wiederum selbst bemalt hat. Weiße Teller und Servierschüsseln werden nun von Krebsen und anderem essbaren Kleingetier bevölkert. Die Tafel und das gemeinsame Essen sieht Lange als Sinnbild menschlicher Zusammenkunft – und Möglichkeit zu neuen Kontakten.

Seit vielen Jahren arbeitet Lange mit „Raumlaborberlin“ zusammen, einem interdisziplinären Team für Stadtutopien, temporäre Interventionen und partizipatives Bauen. Die Berliner halfen bei der Konstruktion eines ausgreifenden Mobiles: Unzählige Tieren aus dickem Filz drehen sich nun im Luftraum der Eingangsrotunde des Braunschweiger Kunstvereins. Ihr gemeinsames großes Ziel aber ist eine Außenstelle der Kunstakademie Düsseldorf im Inklusiven Kunsthaus in Köln-Kalk: Zusammen mit Kol­le­g:in­nen aus ihrer Ateliergemeinschaft hat Lange bereits ein Modell für die Umnutzung der derzeit leer stehenden mehrgeschossigen Immobilie angefertigt – als Torrahmung und Schutzpatronen der dort ein- und ausgehenden Menschen dienen, klar: Tiere.

Bärbel Lange, „Doppellinien“: bis 2. 6., Kunstverein Braunschweig. Öffent­liche Führung: So, 19. 5., 15 Uhr