König sein für einen Tag

Träumen wir unser Leben nur und erwachen wir erst, wenn wir tot sind? Johan Simons inszeniert am Hamburger Thalia-Theater Pedro Calderón de la Barcas Barockdrama „Das Leben ein Traum“ mit dem Charme einer offenen Probensituation

Körperliche Auseinandersetzung in einer Welt der Täuschungen: Jens Harzer als Königträumer Prinz Sigismund Foto: Armin Smailovic

Von Jens Fischer

Wie ist zu unterscheiden, ob das Ich-Bewusstsein gerade durch die Wach- oder die Traumwirklichkeit spaziert? Gibt es diese beiden überhaupt? Oder träumen wir unser komplettes Leben und erwachen erst im Tod? Pedro Calderón de la Barca spielt in „La vida es sueño“, uraufgeführt 1635, mit dieser existenziellen Unsicherheit und den philosophischen Diskursen über die Grenzlinie zwischen Sein und Schein.

Am Hamburger Thalia-Theater verläuft die Grenzlinie mitten über die Bühne. Johannes Schütz ließ einen Steg bauen, den eine Spiegelwand zur Selbstreflexion begrenzt. Die Drehbühne verschiebt die Trennschwelle immer wieder neu, sodass die Figuren des Stücks nie sicher sind, ob sie sich nun auf der Tagseite der Vernunft oder der Nachtseite der Fantasie befinden. Schummrig beleuchten einige Sternen-Glühbirnen diesen Gedankenraum. Von einem Sonnen-Spotlight bestrahlt baumelt über dem Rotationspunkt des Bühnenbildes noch eine Erdkugel, schließlich haben wir es mit dem Welttheater des Barock zu tun. Leben, träumen, spielen – mit ernsthafter Leichtigkeit und erstaunlich humoresk inszeniert Johan Simons das Stück am Hamburger Thalia-Theater.

Mit großen Kinderaugen

Kettenlärm dröhnt durch den Saal. „Ach, ich armer Unglückwurm“, sagt Jens Harzer mit seiner mal märchenhaft singenden, mal den Text atmenden Diktion. Musikalisch entspricht dem der kraftvolle und doch so fragile Trompetenton von Miles Davis, der die Handlung immer wieder auffängt.

Harzer spielt Prinz Sigismund, den König Basilio aufgrund seiner Sternendeuterei für einen potenziellen Tyrannen hält und deswegen seit der Geburt in einem Turmverließ versteckt. Kontakt besteht nur zum Versorger und Erzieher Clotaldo, den Felix Knopp als einen Hierarchien bedienenden Spießer anlegt. Stolz und machtsicher gibt Christiane von Poelnitz dem König eine natürliche Autorität, etwas wehmütig ist sein Räsonnement über die Thronfolge, auf die sich ein Heuchlerpaar berechtigte Hoffnungen macht. Der Herrscher probiert dann aber doch lieber seinen dämonisierten Sohn aus. Vielleicht ist er ja gar kein Bösewicht, sondern ein zum Guten williger Mensch. Schon startet das Experiment: König für einen Tag.

Die Hofgesellschaft schleppt Sigismund ins Schloss, kleidet ihn lumpenproletarisch wie einen Clown, weißt ihm das Gesicht, lässt in schäbiger Feierlichkeit einige Papierschnipsel auf ihn regnen und huldigt ein bisschen. Das plötzlich ins Leben erwachte Kerkerkind ist verdattert, kann nicht mal royal gerade stehen und watschelt wie Charlie Chaplin los, was für reichlich Slapstick-Einlagen sorgt.

Ohne große Regiesetzungen darf das Ensemble freudig drauflos agieren, auf der Suche nach dem Leben im Traum, der Wahrheit im Spiel

Mit kindlicher Unbedarftheit geht Sigismund auch Schwertkämpfe an, betont aber ebenso einen weiteren Persönlichkeitsakzent, setzt eine Intellektuellenbrille auf und klemmt sich ein Buch unter den Arm. Mit großen Kinderaugen, staunend wie und was ihm mit wem so geschieht und welche Handlungsimpulse in ihm erwachen, kostet Harzer die Zerrissenheit der trotzigen Figur aus: Im Denken durchaus philosophisch geschult, im Sozialverhalten eher ein Kaspar Hauser und in der Persönlichkeitsentwicklung ein Parzival’scher Naivling.

Rachegetrieben durch seine lebenslange Inhaftierung macht Sigismund das, was der Hof von ihm erwartet, tobt jähzornig los und gibt den Despoten, tötet einen Diener, der ihm missfällt, knetet einer Frau die Brüste, die ihm gefällt, und schmiert sie beim gierig-geilen Tanze mit Farbe ein. Vergewaltigung? So kann es nicht weitergehen.

Also wird der Kronprinz schnell wieder im Verlies isoliert und ihm eingeredet, der Ausflug ins Schloss sei ein Traum gewesen. Aber schon ruft ihn Regisseur Simons per Lautsprecher, als Volkes Stimme, erneut zum Königträumen auf. Als Möglichkeit, sich zu rehabilitieren. Vorbildmäßig gewandelt nutzt Harzers Sigismund nun die Freiheit der Macht als Freiheit, über sich selbst zu triumphieren, also die Grenzgängerei zwischen gebildetem Menschen und wildem Tier zu beenden.

Befeuert von der Liebe zu Rosaura (Marina Galic) zähmt er Wut und Ehrgeiz, vergibt den Verantwortlichen seines leidvollen Daseins und schwingt sich zum gütigen Herrscher auf. Im Leben? Im Traum? Das hochgedimmte Licht kollabiert, die Schlussszene verschwindet in der Schwärze. Das Happy End ist ein Traum vom Leben, in dem menschliches Handeln möglich ist.

Das Tolle an dem Abend ist weniger die doch eher schlichte Pädagogik eines katholischen Läuterungsdramas, sondern die im Text angelegte, körperlich ausgelebte Auseinandersetzung über Identität, freien Willen, Schicksal, Schuld, Verantwortung und Moral in einer Welt der Täuschungen. Die Inszenierung zieht aus der konzentrierten Ruhe ihre Spannung und ihre Komik aus der Konfrontation von Wort und Verwandlungslust. Simons holt den Charme einer offenen Probensituation auf die große Bühne, wobei das Ensemble dem eher typisierten Personal mit durchaus tieferbohrender Psychologisierung begegnet. Ohne große Regiesetzungen darf es freudig drauflos agieren. Auf der Suche nach dem Leben im Traum, der Wahrheit im Spiel. Was bei dem famosen Thalia-Ensemble natürlich eine Freude ist.

Nächste Vorstellungen:

Fr, 26. 4., 19 Uhr (mit englischen Übertiteln), 28. 4., 17 Uhr; 6./10./12./23. 5., Thalia-Theater, Hamburg